Das vorliegende Foto zeigt den Innenhof meines Elternhauses am Abend des 22. November 1998. Es ist eine schwarz-weiß-Aufnahme aus einer von oben schauenden Perspektive.
Den Kamerablick zurückverfolgend führt dieser vom Hof über die Treppe zur Terrasse zurück. Der Fotograf müsste hier gestanden haben.
Die Nacht ist angebrochen. Dreiundzwanzig Personen sind anwesend, eine Frau und zweiundzwanzig Männer, jung und alt. Die Menge ist aufgeteilt in diejenigen, die zuschauen und die anderen, die etwas tun. Ich weiß nicht, wie ihr Tun zu benennen ist.
Etwas wird weggetragen.
Vier Männer umgreifen eine Decke und tragen den Inhalt weg. Einer der vier trägt Uniform. Ein weiterer Mann geht der Gruppe voraus; er scheint der Anführer zu sein. Der Verformung der Decke nach ist der Inhalt weich. Ein weißes Tuch schaut aus der Decke, das einen dunklen Fleck zeigt. Der Inhalt, dessen Gewicht die Schultern der Männer nach unten zieht, bleibt verborgen. Die Körperhaltung der Männer, ihre Rücken sind uns zugewandt, suggeriert einen Zustand der Alltäglichkeit. Etwas wird weg geschafft. Der Inhalt der Decke scheint ihnen gleichgültig zu sein.
Ich weiß nicht, ob diese Männer meine tote Mutter wegtragen oder meinem toten Vater.
Als es geschah, war ich nicht da. Oft habe ich die anwesenden Freunde und Verwandten nach ihren Erinnerungen gefragt. Die Erzählungen, aufgeladen mit Schmerz und Schock, ergeben kein umfassendes Bild. Einige sagen, dass man die Toten aufeinander gelegt habe, bevor sie weggebracht wurden. Sie sagen, dass meine Mutter, eingewickelt in ein Tuch, abgelegt wurde, auf dem Boden im Haus vor der Terrasse. Mein Vater ist von dem Stuhl, auf dem er ermordet wurde, und den seine Mörder gen Mekka gerichtet hatten, weggetragen worden. Auf dem Boden liegend floss sein Blut auf die Kacheln. Meine Eltern wurden, der Erzählung nach, im Haus aufeinander gelegt, bedeckt und weggetragen. Ein nackter Fuß hing aus der Decke. Andere sagen, dass die Toten nacheinander weggebracht worden sind.
Die anwesenden Freunde und Verwandten berichten von einer aufgebrachten Stimmung, durchdrungen von Protestrufen der Trauernden und Geschrei der Agenten. Das Foto zeigt aber keine Protestrufe, keinen offenen Mund, außer dem des Anführers, der etwas zu rufen scheint. Auf diesem Foto erscheinen jene, die am Tragen nicht beteiligt sind, als Zuschauer; hier und da stehen sie, das Ende eines Vorgangs abwartend. Wenn ich auf das Bild schaue, verstummen alle Rufe, die ich jahrelang gehört habe, als ich mir diese Szene vorgestellt habe.
Ein Foto gibt aber immer eine selektive Realität wieder. Das Aufzeigen birgt ein gleichzeitiges Verbergen in sich und ich frage mich, was hier verborgen bleibt und wieso? Und was für ein Bild der Realität durch das Foto legitimiert wird?
Die Aufnahme verschweigt den Inhalt der Decke, normalisiert einen unwürdigen Umgang mit dem Leichnam, der weggebracht wird, als sei er ein Haufen Etwas. Nichts auf dem Foto verweist auf die Identität der Toten und auf die tiefe Erschütterung der iranischen Öffentlichkeit, die ihre Ermordung nach sich zog. Nichts auf dem Foto verweist auf den politischen Kontext des aufgenommenen Ereignisses, auf die staatlich angeordneten und systematisch durchgeführten Hinrichtungen von Oppositionellen, die sich seit Jahren wiederholten.
Alle Fotos, die an dem Abend, als die Ermordung meiner Eltern bekannt wurde, in deren Haus aufgenommen worden sind, stehen seit ihrer Aufnahme unter strenger Geheimhaltung und Zensur. Sogar die Aufnahmen der Spurensicherung wurden aus der Ermittlungsakte entfernt, entgegen aller Proteste. Nun ist aber das besagte Foto als einzige Aufnahme veröffentlicht worden, in einem großformatigen „wichtigen Fotobuch“, einem Sammelsurium von Pressefotos aus dreißig Jahren: hunderte von Aufnahmen von offiziellen Staatsempfängen, Naturkatastrophen, Kriegsjahre, Volksfeste, Fußballspiele usw. Eine dreißigjährige Chronik der Islamischen Republik.
Unter dem Foto steht der Satz: „Die verdächtige Ermordung von Dariush Forouhar, ehemaliger Arbeitsminister und seiner Frau in ihrem Haus“
Auch in diesem Satz sollte dem Ungesagten nachgespürt werden. Parwaneh Forouhar wird hier auf „seine Frau“ reduziert. Ihre politische Haltung und ihr gesellschaftlicher Stellenwert werden nicht benannt. Das fünfzigjährige politische Engagement von Dariush Forouhar wird auf wenige Monate seiner Ministerzeit reduziert. Schlüsselworte wie Oppositionelle, Regimegegner und Andersdenkende werden nicht eingesetzt. Politische Ermordung wird mit verdächtiger Ermordung ersetzt, trotz der allgemein bekannten Sachlage, dass die Morde politisch motiviert, von Agenten des Informationsministeriums der Islamischen Republik durchgeführt und von den zuständigen Minister befohlen worden waren.
In der Verfälschung liegt der wahre Grund der Veröffentlichung dieses Fotos und seiner Beschriftung in einem Referenzbuch. Hier wird eine verzerrte Historie forciert, die das Regime aus der Verantwortung zieht. Ein erfolgreiches Muster, das den aktuellen Umgang des Machtapparates im Iran mit der Opposition und der Geschichte ihres Widerstandes aufzeigt.
Auch wenn die strenge Geheimhaltung und Zensur aufzuweichen scheint, ist kein Raum für die Wahrheit und Freiheit geöffnet worden. Was zurzeit als eine Offenheit suggeriert wird, beinhaltet mehr Schein als Sein.
Am 22. November ist der siebzehnte Jahrestag der Ermordung von Dariush und Parvaneh Forouhar, meinen meiner geliebten Eltern. Zu diesem Anlass werde ich in den Iran reisen, um ihr Haus der Öffentlichkeit zum Gedenken zu öffnen. Auch wenn seit Jahren ein Verbot über der Gedenkfeier verhängt ist, hoffe ich auf ein Gelingen.
Parastou Forouhar, 9. November 2015
Das Innenhof, Nov. 2015