Das Gras ist grün, der Himmel ist blau, und sie ist schwarz…
Drei Monate, von April bis Juni 2017, verbrachte die international renommierte iranisch-deutsche Künstlerin Parastou Forouhar in der Künstlerresidenz Chretzeturm in Stein am Rhein. Dabei hat sie das Städtchen und seine Umgebung gründlich erkundet. Sie hat die bemalten Hausfassaden betrachtet, Tierdarstellungen und Hausnamen gesammelt, sie hat die Atmosphäre des Ortes aufgesaugt, auf langen Spaziergängen am Rhein entlang zur Insel Werd, hoch zur Burg Hohenklingen, die Gegend erkundet. Sie ist mit dem Schiff den Rhein abwärts nach Schaffhausen und aufwärts nach Konstanz gefahren, hat verschiedene Museen und Ausstellungen in Stein und Umgebung besichtigt, war bei den Lesungen von Peter Stamm und Felix Graf. Sie ist von der lieblichen Landschaft, die ihr fast ausserirdisch schön vorkommt, begeistert. Begeistert ja, aber auch befremdet. Gegen Ende ihres Aufenthalts kam sie mit Flüchtlingen in Kontakt, fühlte sich ihnen spontan emotional nahe und traf sich öfters mittwochs mit ihnen.
Befremdet, warum?
Parastou Forouhar, in Teheran als Tochter einer angesehenen Familie aufgewachsen, musste erleben, dass ihre Eltern, beide Oppositionelle, die sich unter dem Schah- wie auch später unter dem Mullah-Regime für Demokratie einsetzten, im Zuge der Intellektuellenmorde im Iran 1998 vom iranischen Geheimdienst misshandelt und brutal ermordet wurden. Seither setzt sie sich für die Aufklärung dieser Morde ein und fährt jedes Jahr am Todestag ihrer Eltern im November in den Iran. Mutig und geradlinig wie ihre Eltern, ist Parastou Forouhar für viele Menschen im Iran, in Europa und den USA, aber auch in anderen Teilen der Welt, zu einer Symbolfigur der Opposition gegen das autokratische iranische Regime geworden.
Sie betrachtet die Dokumentation dieses Verbrechens und ihre Versuche der Aufklärung als Teil ihres künstlerischen Werkes. Es wurde in international wichtigen Ausstellungen wie z.B. 2003 in der von Peter Weibel konzipierten Ausstellung „M_ARS. Kunst und Krieg“ in der Neuen Galerie in Graz gezeigt.
Jeder ihrer Besuche im Iran ist von Schikanen seitens der Behörden begleitet – mal mehr, mal weniger. Kurz vor ihrem Aufenthalt in Stein am Rhein aber erfährt die Künstlerin, dass sich die iranischen Behörden eine neue Strategie ausgedacht haben. Nicht mehr nur die schon gewohnten Behinderungen und Einschränkungen der vergangenen Jahre, einmal, 2009, wurde sie sogar festgehalten und ihr die Ausreise verweigert, jetzt wird Parastou Forouhar – wegen der kontinuierlichen Aufklärungstätigkeit an dem Mord ihrer Eltern – selbst zur Angeklagten. Der iranische Staat wirft ihr Blasphemie vor und will ihr den Prozess machen. Darauf steht Gefängnis. Offenbar glaubt man, zu stärkeren Mitteln greifen zu müssen, will Parastou Forouhar jetzt endgültig einschüchtern, aus dem Iran fernhalten und zumindest so zum Schweigen bringen – ihr wird noch immer viel Einfluss zugeschrieben. Gleichzeitig sind im Fernsehen, und, noch drastischer, in den sozialen Medien, Aufnahmen von Giftgasangriffen in Syrien zu sehen. Opfer sind grossteils Frauen und Kinder, die qualvoll sterben müssen.
Parastou Forouhar wird von der Islamischen Republik Iran bedroht, hat natürlich Angst, aber sie sagt: „Ich will mich nicht von meiner Angst beherrschen lassen“. Sie wird zu dem Prozess im Oktober, also kurz nach Erscheinen dieser Publikation, in den Iran fahren. Parastou Forouhar liebt ihr Land und seine Menschen. Sie ist eng vernetzt mit Verwandten, Freunden, Künstlern, politisch tätigen Aktivisten und steht mit vielen Menschen in ihrem Herkunftsland und der gesamten Region des Nahen Ostens in engem persönlichen Kontakt.
Mit dieser doppelten Erschütterung in der Seele – ihrer Anklage im Iran und den Giftgasangriffen in Syrien – kommt Parastou in Stein am Rhein an. Sie ist offen und herzlich wie immer, man merkt ihr zunächst nichts an. Doch wie lebt sie mit diesem permanenten Widerspruch, diesen extremen Gegensätzen? Mir kommt ein Satz des türkischen Autors und Literaturnobelpreisträgers, Orhan Pamuk, in den Sinn: „Wissen Sie, es gibt Leute, die lieben ihr Vaterland, indem sie foltern. Ich liebe mein Land, indem ich meinen Staat kritisiere.“
Bei Parastou Forouhar freilich geht diese Spaltung aufgrund ihrer Biographie weitaus tiefer. In ihrem Buch „Das Land, in dem meine Eltern umgebracht wurden – Liebeserklärung an den Iran“ (2011) schreibt sie: „Die Ermordung meiner Eltern hat meine Fremdheit in Deutschland verstärkt und nach und nach einen Graben der Einsamkeit erzeugt, der sich entlang meiner tiefen Bindungen an diese Gesellschaft erstreckt. Ich erzähle Geschichten, die oft den Rahmen der hiesigen Realitäten und des Alltags sprengen.“
Doch nicht nur der Gegensatz zwischen dem Nahen Osten und Europa ist gross, auch die Unterschiede zwischen dem international und kosmopolitisch geprägten Grossraum Frankfurt/Main, wo sie seit 1991 lebt, und der ländlich geprägten Welt am Rhein und Untersee, in der schweizerischen Kleinstadt Stein am Rhein, sind beachtlich.
Ein Blick aus ihrem Fenster im „Chretzeturm“: die wunderbare Landschaft am Rhein, die Rebberge am Klingenberg, das malerische Städtchen – alles strahlt Ruhe und Beständigkeit aus. „Ihre“ Welt kommt da nicht vor, ist überhaupt nicht sichtbar. Die Tourismuswerbung preist Stein am Rhein mit seinen bemalten Hausfassaden als „ein kleines Paradies“ an, als heile Welt also. Geht es Parastou Forouhar etwa so wie Otto Dix, der nach 1933, der Entlassung aus seiner Professur durch die Nazis und seinem Umzug an den Bodensee, ins nahegelegene Hemmenhofen, zugespitzt formulierte: „Ein schönes Paradies. Zum Kotzen schön“ ?
Parastou Forouhar nimmt den Widerspruch zwischen äusserer und innerer Realität als Ausgangspunkt, um an einem Projekt inszenierter Fotografie zu arbeiten. Die Künstlerin stürzt sich nicht, wie Otto Dix, in seinem erzwungenen Exil auf der Höri, in die Darstellung der phantastischen Landschaft an Rhein und Bodensee.
Sie imaginiert den Einbruch des „Fremden“ in die Idylle – und wählt für die künstlerische Umsetzung das Medium der inszenierten Fotografie.
Sie untersucht Aufnahmeorte in Stein am Rhein, macht erste Arbeitsfotos, wählt aus, die Konzeption verdichtet sich. Schliesslich entstehen in wenigen Tagen an die 3000 Aufnahmen, ganze Serien, die zunächst in einem ersten Auswahlprozess auf etwa 500 und dann immer weiter bis zur endgültigen Bildauswahl reduziert werden.
Das „Fremde“ wird in diesen Fotografien repräsentiert durch ein in einen vornehmen schwarz-seidenen Tschador verhülltes Wesen. Eine schwarze gesichtslose Gestalt – es geht ganz offensichtlich nicht um ein Individuum. „Sie“ ist ganz offenbar eine Metapher für „der /die / das Fremde“ – ist gleichzeitig aber auch als menschliches Wesen vor allem durch immer wieder zu erkennende Hände identifizierbar. Manchmal scharf konturiert, manchmal schemenhaft.
Der Titel der neuen Serie von Parastou Forouhar ist in Anlehnung an einen Spruch entstanden, der in vielen Varianten existiert, immer jedoch mit: „Das Gras ist grün, der Himmel ist blau“ beginnt. Der Schriftsteller Peter Stamm variiert ihn in einem seiner Texte der Bamberger Poetikvorlesungen als auf den ersten Blick banales Beispiel im Kontext von Spracherwerb: „Das Gras ist grün, der Himmel ist blau, die Tanne ist hoch“ – und umschreibt doch zugleich raffiniert einen Raum. Die Tanne als Vertikale verbindet die zwei Horizontalen, das Gras unten und den Himmel oben. Parastou Forouhar wandelt diesen Titel ab: „Das Gras ist grün, der Himmel ist blau, und sie ist schwarz…“, führt also die Farbaufzählung weiter – grün, blau, schwarz. Der Bruch der Reihe entsteht durch das Personalpronomen „sie“. Zwischen unten und oben, zwischen Erde und Himmel erscheint ein schwarzes, undefiniertes Wesen, eine „sie“. Parastou Forouhar definiert mit diesem Titel ihres Kunstprojektes ebenfalls einen Raum, einen Erzählraum, der aber nicht geschlossen, sondern irritierend offen ist und Fragen aufwirft. Welche Geschichten erzählt „sie“?
Entstanden sind die Aufnahmen in Stein am Rhein, im Stadtraum, in der Natur und in Innenräumen: in den Strassen und Gassen des „Städtli“, in, auf und am Rhein, auf freiem Feld, im Amtmannsaal des Klosters St. Georgen und in der Dauerausstellung des Museum Lindwurm. Das Museum Lindwurm, das, insbesondere im Vorderhaus, bürgerliches Wohnen um 1850 mittels eingerichteter Räume präsentiert, „so als ob die Bewohner das Haus gerade verlassen hätten“ wird von manchen Besuchern mit einem ähnlich idyllisch-verklärenden Blick wie die Stadt mit ihren bemalten Häuserfassaden betrachtet. Mitten in diesem Museum wird nun, als Intervention, eine Auswahl der neuen fotografischen Arbeiten von Parastou Forouhar ausgestellt.
Einige davon beziehen sich direkt und eindeutig identifizierbar auf Stein am Rhein und das Museum Lindwurm: die verschwommene schwarze Gestalt in der Gasse vor dem um 1900 mit Wandmalereien versehenen Rathaus, die schwarze „sie“ auf dem Sofa im Salon von Emma Windler, der ehemaligen Besitzerin und Bewohnerin des Hauses, und der schwarze Tschador auf dem Treppenabgang – quasi als Endpunkt, ohne „sie“, denn „sie ist weg“ – das Spiel ist aus.
Neben diesen ortsbezogenen humorvoll-spielerischen Interventionen des Fremden in die scheinbar heile Welt des Museum Lindwurm sind in den Museumsräumen weitere Arbeiten ausgestellt, die das konkret Verortbare verlassen, auch wenn die Aufnahmeorte für die Ortskenner sehr wohl identifizierbar bleiben. Für die Bildaussage spielt dies aber nur noch eine untergeordnete Rolle.
Den Auftakt macht eine schwarze Schwebende in einem grün-getäferten Saal mit barocker Stuckdecke: macht sie gerade einen Luftsprung? Untersucht, wie sich dieser Raum „anfühlt“, ein Raum, der bislang nicht ihrer war? Und wirkt dabei so, als hätte genau „sie“, dieser schwarze Körper mit seinem Faltenwurf, gefehlt, um diesen Raum – breite dunkelbraune Eichendielen, grüngestrichener Holztäfer und weisse Stuckdecke – ästhetisch zu vervollkommnen? Als habe dieser Ort nur auf sie gewartet? Ihre Untersuchung des Raumes aber hat an den getäferten Wandpanelen mit ihren zahlreichen Gebrauchsspuren begonnen, den sie, die verschwommene Silhouette, sorgfältig erkundet. Erforscht sie seine Geschichte, seine Nutzung, die Spuren menschlichen Tuns?
Eine Aufnahme in freier Natur zeigt einen alten knorzigen Walnussbaum, der in einem dicht bewachsenen, abgeblühten, grünen Rapsfeld vor blauem leichtbewölktem Himmel quasi organisch aus dem Kopf der schwarzen Gestalt herauswächst, während „sie“ ein schwarzes Kreuz bildet (oder läuft „sie“ ihm mit offenen Armen entgegen?). „Sie“, die schwarze Fremde, ist gleichsam ein Teil der sie umgebenden Natur, verschmilzt mit ihr. Sie ist alles, nur nicht fremd, im Sinne von nicht-zugehörig.
Freilich gibt es auch eine andere Seite. Einsamkeit und Fremdheit auf einer ungewissen Reise über den Fluss? Die schwarze Gestalt steht aufrecht auf einem Holzfloss, das mit alten Reifen gepuffert ist – ein archaisch wirkendes Gefährt. Um welche Reise mag es sich handeln? Eine simple Flussüberquerung oder eher eine in ewige Gefilde? Das Wasser aber schimmert verheissungsvoll grünlich-blau, tiefblau, Lichtspiegelungen sind zu erkennen. Wohin auch immer sie sich auf den Weg machen will, sie wird es mit grosser Würde tun, auch wenn der Ausgang der Reise offen sein mag. Das Wasser, die Natur, sind Verbündete, spenden Trost zu allen Zeiten.
Mehrfach ist das Wasser geradezu das Element der „schwarzen Sie“. Sie kommt aus dem Wasser, als wäre es ihre natürliche Umgebung – vielleicht ist sie an einem Fluss gross geworden? Sie steigt aus den Fluten, es ist kein feindliches Gewässer, das bedroht, sondern von magischer Schönheit, klar bis auf den Grund, leicht wellig, mit Farbschattierungen von hellgrün bis dunkelblau, spiegelt Licht und Himmel. Von dort ist es nicht weit bis zu einer Bank mit zwei monumentalen Felsbrocken, wo „sie“, die Schwarze, sich ausruht mit Blick auf den Fluss, in dem sich im Abendlicht die Farbtöne der Häuser am anderen Ufer sanft spiegeln, bläulich, rötlich, grün, in den unterschiedlichsten Farbnuancen – ist „sie“, die schwarze Gestalt, nun endgültig Teil der Idylle geworden? Angekommen?
So ein mögliches Narrativ. In den eingerichteten Räumen des Museum Lindwurm wirken die Bilder vermutlich zunächst irritierend, als Fremdkörper, die sie ja auch sind, denn sie sind nicht Teil der ständigen musealen Präsentation. Dies zu erkennen ermöglicht, genau und neu hinzusehen, und die Fremdheit zuzulassen. Eine Fremdheit, die aber selten bedrohlich, sondern eher überraschend, oft leicht und spielerisch daherkommt. Humorvoll. An anderen Orten mögen die Bilder andere Geschichten erzählen oder imaginieren lassen. Andere Assoziationen wecken. Und andere Fragen aufwerfen.
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