Als ich in April für drei Wochen Teheran besuchte, begegnete ich einer ausgebreiteten Verzweiflung, die permanent in Worten und Gestik der Bürger zum Ausdruck kam. Die Stadtgespräche in Taxis und Geschäfte waren überladen von einer Stimmung der Ratlosigkeit. Oft kam die aufgestaute Wut zum Ausdruck, welche die Menschen hinter ihrer Alltagsfassade zu verbergen suchten. Aber schon beim Erzählen über das Labyrinth ihrer beschwerlichen Lebensabläufe, versandete die explosive Energie dieser Wut in Ratlosigkeit. Kopfschüttelnd und erschöpft folgte jeder seinem einsamen Weg.
Ein apokalyptischer Horizont – ähnlich jenem in Syrien, Irak und Nord-Korea – hatte sich ausgebreitet. Niemand wusste, wie lange die Zerreißprobe zwischen der herrschenden Scheinnormalität und einem drohenden Niedergang noch auszuhalten sein würde.
Die sozialen Unruhen, die angesichts der zunehmenden Wirtschaftsmisere unvermeidbar schienen, wirkten eher verängstigend als motivierend. Anstatt Proteste anzuzetteln, haben viele Angehörige der schrumpfenden Mittelschicht ihre Gehälter in Dollar umgetauscht, um dem dramatischen Kursverlust der heimischen Währung zu entkommen. Ein befreundeter Professor der Teheraner Universität erzählte mir, diese hilflose Strategie des ständigen Währungsumtausches sei inzwischen zu einem Dauergesprächstoff beim Kollegium geworden.
Die Einflussnahme der Außenwelt nimmt man im Iran entweder als Heuchelei oder aber als Kollaboration mit dem Regime wahr. Wiederholt hörte ich, dass die verschärften Sanktionen und die laut gewordene Kriegrhetorik nicht, wie vorgeblich behauptet, das Regime, sondern die Menschen im Iran treffen und schwächen würden.
„Sackgasse“ war der meistverwendete Begriff bei der Schilderung der aktuellen politischen Lage. Für mich fühlte sich die Situation wie die Lage von Menschen an, die der drohenden Gefahr bewusst, reglos unter einer brüchigen Mauer verharren, weil sie glauben, ihre Bewegungen könnten sie zum Einsturz bringen und sie darunter begraben. Als ob das Unwort „alternativlos“ in dieser zugespitzten Lage seine Berechtigung finden würde.
Im Nachhinein stelle ich fest, dass sich in meiner Wahrnehmung das Schicksal der Menschen und das des Regimes überlagert hatten. Vor drei Jahren, als ich unmittelbar nach dem Fall von Mubarak, Teheran besuchte, hörte ich wiederholt die Selbstkritik der Aktivisten der Grünen Bewegung: „Wir hätten die Plätze nicht so einfach räumen dürfen, wir hätten unsere Bewegung radikalisieren und das Regime zum Einknicken bringen müssen“, hieß es. Nun hatte sich die Aussage von Grund auf gerändert: „Wir waren klug, dass wir die Eskalation nicht zugelassen haben, wir waren klug genug, nachzugeben“.
Die Berechtigung dieses neuen Standpunktes bezog sich auf die aktuelle Lage und die Entwicklung nach der Fall der Diktaturen in der Region. Die Notlage der Menschen in Syrien und die Instabilität der postrevolutionären Gesellschaften wirkt abschreckend. Ein iranischer Intellektueller verglich das Land mit einem Basar voller Kristallvasen in einem von Steinmetzen bevölkerten Stadtviertel…
Ob die Machthaber die Dringlichkeit der Lage begreifen würden? Das war eine verzweifelt und viel diskutierte Frage. Die bevorstehenden Wahlen könnten das Vehikel sein, um ihnen diesen Konsens aufzudrängen. Auf meinen Einwand, ob die Stimmen überhaupt gezählt werden würden, reagierten viele trotzig: „Wenn sie nicht gezählt werden, haben wir nichts verloren, aber wenn doch, dann kann die Sackgasse durchbrochen werden! Ein Wahlboykott würde die Passivität verstärken und keinen Ausweg aus der politischen Misere ebnen.“
Ein Soziologe stellte mir die Frage: „Wer würde gewählt werden, wenn eine wirklich freie Wahl zum jetzigen Zeitpunkt zugelassen würde?“ Seine eigene Antwort war: Khatami. Ich schwieg. Trotz meines starken Widerwillens musste ich ihm innerlich Recht geben. Man wünschte sich erneut eine gemäßigte islamische Republik; wieder war das „Khatami- Syndrom“ ausgebrochen. Viele meiner Gesprächspartner warteten auf ein Zeichen von ihm. Er war unterwegs in der Stadt; empfing eine Gruppe Studenten, nahm an einer Kulturveranstaltung teil, besuchte eine Filmpremiere und vieles andere. Seine zurückhaltenden Worte im Bezug auf die Wahlen wurden kritisiert, sein familiärer Umgang mit den Menschen gepriesen. Das alte Lied.
Ob die aktuellen Machtverhältnisse ihm eine größere Einflussnahme zugestehen würden, schien vielen illusorisch. Hier setzten einige die Hoffnung auf Rafsanjani als Bindeglied zwischen der Machtstruktur und der Gesellschaft. Seine verbrecherische Vergangenheit schien nicht mehr relevant zu sein.
Ein Schlüsselerlebnis war für mich, als Rafsanjani bei einem netten Abendessen in einer Runde bekannter Teheraner Intellektueller, alle mit säkularen Ansichten, als „Patriot“ bezeichnet wurde. „Er würde die nationalen Interessen des Landes vertreten“, sagte man. Die Entfremdung, die ich während meines Aufenthaltes zunehmend gespürt hatte, schlug in diesem Moment in Ratlosigkeit um. Ich zog mich in mein Schweigen zurück.
Solche Aussagen wiederholten sich, wurden als Argumente der „Realpolitik“ gerechtfertigt. Ich hatte den Eindruck, dass sich die oppositionelle Haltung zum Regime an vielen Stellen auflöst.
Trotz solcher Gespräche konnte ich bis zu meiner Abreise Ende April keine Aufbruchstimmung in Bezug auf die Wahlen auf den Strassen spüren. Der öffentliche Raum war weiterhin bestimmt von einem verzweifelten Kraftakt der Bürger, ihren Alltag zu meistern.
Die Ereignisse nach meiner Rückkehr aus Teheran, die in kurzer Zeit eine Welle der Unterstützung für Herrn Rohani, einen mächtigen Man aus der Rafsanjani-Fraktion, herbeigeführt haben, habe ich über Internet verfolgt. Facebook- Aktivisten, die sich in ihrer Wahlbeteiligung gegenseitig bestärkten, produzierten Parolen und Bilder, die ihre Gemeinschaft repräsentierten und ihr „Wir-Gefühl“ stärkten. In einem Dominoeffekt setzte sich das Bekenntnis „Ich wähle“ in unterschiedlichen Schichten der Gesellschaft fort. Mit rasanter Geschwindigkeit vermehrte sich die Lilafraktion (Anhänger Rohanis).
Berichte über Wahlbüros aus den unterschiedlichsten Ecken des Landes verdeutlichten eine aktiv gewordene Netzwerkstruktur. Bei den Wahlkampfversammlungen wurde die Mobilisierung der Gesellschaft sichtbar. Der sich überschlagende Stimmungswechsel überraschte viele Beobachter und Akteure zugleich und führte zu einer vereinnahmenden Dynamik. Sogar manche politische Parteien schwenkten in letzter Sekunde vom Wahlboykott zur „Wahl zur Veränderung“ um. Die mahnenden Stimmen, wenn sie überhaupt laut wurden, wurden meist als puritanisch, unflexibel, egozentrisch usw. abgestempelt.
Ich saß in diesen Tagen wie gebannt vor dem Computer, las die Kommentare, hörte den Experten zu, verfolgte die Facebook- und Weblog- Einträge und führte Gespräche mit befreundeten „Wahlgängern“ um mich orientieren zu können. Wie schon oft bei solchen Massenbewegungen waren manche Randerscheinungen aufschlussreich, deren Tendenzen nachzuspüren: Sentimentalisierung der Argumente, karnevalartige Ästhetik der Kampagne, kitschige Kulissen, Sehnsucht nach Heiterkeit und viele Parolen ohne politischen Gehalt. Es hieß beispielsweise in einer Parole der Anhänger des Teheraner Bürgermeisters: „Du bist hübsch, du bist blond, du wirst bestimmt der Präsident.“
Gemeinsam lachen konnte man auch bei Auftritten einem Kandidaten namens Gharazi, der in Wortwahl und Gestik große Kabarett-Qualitäten aufwies. Die ansteckende Heiterkeit konnte die spürbare Spaltung jedoch nicht überall überspielen. Wenige Tage vor der Wahl sprach ich über Skype mit einem befreundeten jungen Exil-Iraner, der nach seiner Freilassung aus der Haft vor zwei Jahren das Land verlassen hatte. Kontrovers diskutierten wir. Er sagte, dass er sogar einen „Henker“ wählen würde, wenn dieser die Spaltung der Macht zugunsten der nationalen Interessen vertiefen und eine Kursveränderung der Politik der letzten Jahre herbeiführen würde. „Wählen sei keine moralische Entscheidung, sondern eine auf Basis der vorhandene Realität getroffene politische Entscheidung“, sagte er, ohne zu merken, welche tiefe Verletzung ich bei seiner Aussage spürte. Er, mein Freund, würde er sogar den Mörder meiner Eltern wählen? So dachte ich schweigend, während er argumentierte. Kurz darauf meinte eine Freundin, dass ihrer Ansicht nach, die Entscheidung zwischen den Befürwortern eines militärischen Angriffs des Westens mit dem Ziel eines „Regime – Changes“ und jenen, die für eine Veränderung im Inland stünden, an der Wahlurne fallen werde. Meine Versuche, sie dieser Polarisierung zu entheben, empfand sie angesichts der Krisensituation als „nicht relevant“.
Mehr und mehr wurde mir bewusst, dass weder meine Argumente noch mein Biographie eine Relevanz in den aktuellen politischen Diskussionen haben. Betroffen las ich den Beitrag einer Facebook- Aktivistin als Reaktion auf mahnende Stimmen, die zum Gedenken an die Verbrechen der Islamischen Republik aufriefen. Sie meinte, dass derartige Kommentare sie an „Memorysticks“ erinnerten, die griffbereit und ohne Rücksicht auf ihre Kompatibilität, überall eingesetzt würden.
Je kraftvoller und lauter die Masse der Lilawähler wurde, desto passiver versackte ich in einer Zuschauerrolle, und je mehr versagte meine Stimme. Ich konnte den Zauber der entstandenen Gemeinschaft wahrnehmen, ohne sie nachvollziehen, mich damit verbinden zu können. Die Naivität, die diese Gemeinschaft als ein bewusstes Mittel einsetzte, um die Machthaber zu beschwichtigen, widerstrebt mir. Jeder der böse Erfahrungen mit dem Machtsystem im Iran gemacht hat, kennt ein solches Rollenspiel. Man (eher Frau) erkennt die vorgeblich wohlmeinende, väterlich-fürsorgliche Eigenschaft der Machthaber an, um die eigene Abweichung von der Norm als harmlos und naiv erscheinen zu lassen. Ein infantiles Rollenspiel, das die Anerkennung der väterlichen Rolle als Unterdrücker voraussetzt. Eine konfrontative, ja emanzipatorische Haltung gegenüber der Machtstruktur wird hier kaum angestrebt; man hofft auf eine „familiäre Versöhnung“. Der eigene besänftigende Auftritt soll zu einer Unterminierung der harten Haltung der Gegenseite führen, die Charmeoffensive soll die potenzielle Brutalität der Gegner aushebeln. So wurde nach dem Sieg der Lila Bewegung eine Parole gerufen, die für mich sehr bezeichnend war: Diktatur, wir danken, wir danken! Dieser honorierende Satz wird normalerweise in Fußballstadien einem Torschützen zugerufen.
Eine Frage, die ich mir stelle ist, wie wird man nun nach den Wahlen auf unliebsame kritische Stimmen reagieren? Dass in der Machtstruktur weiterhin solche Stimmen nicht erwünscht sind, dessen bin ich mir sicher. Und werden die wach gewordenen Zellen der Zivilgesellschaft weiterhin kritische Stimmen als überflüssig bezeichnen, nur um den angestrebten Konsens mit dem Herrschaftssystem nicht zu gefährden oder werden doch notwendige emanzipatorische Schritte gegenüber der Machstruktur gewagt?
Ob Lila oder Grün, ich bleibe bei der dringlichen Frage: „Wo ist meine Stimme?“