„Exilanten sind die wahren Botschafter ihrer Herkunftsländer“, so Sven Tetslaff von der Körber Stiftung im vergangenen September anlässlich seiner Rede zu dem Tage des Exils in der deutschen Nationalbibliothek Frankfurt am Main. Diese Aussage berührte mich. Ich nahm sie auf meine letzte Reise in den Iran mit und stellte sie mir zur Aufgabe. Der folgende Bericht beruht auf diesen Ausspruch und meinen Gedanken hierzu.
Am 12. November reiste ich nach Teheran, um meiner Eltern Parvaneh und Dariush Forouhar zu gedenken, die als bekannte oppositionelle Politiker des Iran im Jahr 1998 im Zuge einer Serie von politischen Morden an Andersdenkenden durch Agenten des Geheimdienstes der Islamischen Republik ermordet wurden. Wie in jedem Jahr, wollte ich zum Anlass ihres Todestages am 22. November versuchen, eine Gedenkfeier in ihrem Haus abzuhalten, um an sie zu erinnern und die Aufklärung der politischen Morde im Iran einzufordern.
Der Anlass fiel zusammen mit einer veränderten gesellschaftlich-politischen Situation. Einerseits herrschte ein heute noch anhaltender revolutionärer Aufstand vor, im Zuge dessen die Beteiligten mit Wucht und Standhaftigkeit für Gleichberechtigung und Demokratie eintreten. Mutiger und entschlossener denn je fordern sie den Sturz des Regimes ein. Andererseits verstärkt sich der Druck der Repressionen um ein Vielfaches. Tausende wurden bereits verhaftet, hunderte bestialisch getötet.
Die Entscheidung diese Reise anzutreten, fiel mir schwer. Ich war besorgt um mich und um meine Liebsten, die mein Schicksal mittragen. Es ist unbeschreiblich, wie viel Angst man vor einem Land haben kann, aus dem man kommt und mit dem man auf eine unentrinnbare Weise verbunden ist. Auch diese Angst, die allen Menschen auf der Flucht wie den Exilanten gemein ist, sollte als Botschaft vernommen werden.
Die erste Berührung mit der Staatsmacht geschieht stets bei der Passkontrolle. Dieses Mal hatte sich paar Schritte weiter ein junger Beamte in Zivil positioniert, der mich unauffällig beobachtete. Kaum hatte ich die Kontrolle passiert, rief er mich zu sich. Zuerst musste ich ihm meinen Reisepass reichen, dann ihm zu der Gepäckausgabe folgen. Im Anschluss begleitete ich ihn mit meinem Koffer zu einem mir schon bekannten Raum, wo kurze Verhöre durchgeführt und schriftliche Vorladungen für weitere Sitzungen ausgehändigt werden.
Dort saß ein weiterer Beamte hinter einem Schreibtisch, ebenso jung und zivil gekleidet. Die Beamten teilten mir mit, dass gemäß einer Anweisung von oben mein Gepäck durchsucht werden müsse. Der Befehl wurde akribisch durchgeführt. Im Raum herrschte eine betriebsam bürokratische Atmosphäre vor. Langsam sammelten sich meine ausgepackten Gepäckstücke, sorgfältig sortiert, auf dem Schreibtisch. Sie waren aus Papier, sämtlich beschriftet: Ein Buch, der letzte Roman von Elif Shafagh auf Deutsch. Ein altes kleines Adressbuch, in dem ich vor Jahren die Telefonnummern von Verwandten und Freunden meiner Eltern notiert hatte. Und zuletzt ein kleiner Stapel von Visitenkarten von jenen Handwerkern, die ich wegen anstehender Reparaturarbeiten meines Elternhauses kontaktierte. Als ich mich beschwerte, dass doch nichts gegen die Kontaktaufnahme mit den alten Angehörigen meiner Eltern spräche, wurde mir gestattet, aus dem Adressbuch die entsprechenden Nummern abzuschreiben. Beim Durchblättern der Seiten musste ich traurig feststellen, dass viele der hier eingetragenen Personen in den letzten Jahren verstorben waren.
Es war einfach absurd. Ein sinnloser Befehl, der minutiös durchgeführt wurde, um Autorität zu demonstrieren. Keiner der konfiszierten Gegenstände war von politischer Relevanz. Die Komik der Situation amüsierte mich und ärgerte zugleich die jungen Beamten. Ich erhielt am Ende eine Quittung für die konfiszierten Gegenstände.
Mit einer überraschenden Erleichterung verließ ich das Verhörzimmer: Mein Reisepass war nicht eingezogen worden, womit ich zugegebenermaßen fest gerechnet hatte.
In der Eingangshalle des Flughafens streifte mein Blick über die Köpfe der versammelten Menschen, die auf die Ankunft von einzelnen Passagieren warteten. Hier und da fiel mein Blick auf das Haar unverschleierter Frauen. Da waren sie, jene ersten Anzeichen des viel zitierten Wandels, derer ich hier mit eigenen Augen erblickte. Wie wunderbar, dass sich der Wandel in den Haaren der Frauen manifestierte!
Die Fahrt zu meinem Elternhaus führt durch den Süden Teherans. Auch auf dieser Strecke konnte ich die Spuren des Wandels entdecken: auf die Wände gesprayte Parolen gegen das Regime und zerrissene Propaganda-Banner. Entlang einer Unterführung war die Aufschrift „Nieder mit der Diktatur, Tod dem Khamenei!“ zu lesen. Die Angst, die mich in den letzten Wochen beschlichen hatte, wich beim Betrachten dieser Szenen einem Gefühl der inneren Genugtuung.
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Wenn ich nach Teheran reise, verbringe ich meine ersten Tage vor Ort mit Spaziergängen im Stadtraum: Ich streife durch die Viertel, in denen ich aufgewachsen bin. Auch hier ist der Wandel unübersehbar. Ein junger Verkäufer in einem Handyladen kritisierte das eingeschränkte Internetvolumen, das seit dem Beginn des Aufstandes staatlich angeordnet wurde. Im selben Atemzug schickte er die Mullas zum Teufel, laut und unverhüllt. Ein Taxifahrer beschrieb seine Arbeit als ein verlorenes Wettrennen mit der täglich steigenden Inflation und verglich das Regime mit einem Krebsgeschwür, welches rausoperiert werden müsste, damit es „uns“ endlich besser gehe. Ein junger Straßenhändler verkaufte Kopftücher, die er als Schals für den Hals anpries. Verschmitzt sagte er mir, dass wir erst den Hijab, dann die Mullas zur Hölle schicken würden. „Was machst Du dann?“, fragte ich ihn. „Leben, einfach leben“, antwortete er mit leuchtenden Augen. Als ich an ihm vorbeiging, rief er mir noch laut nach: „Zan, Zendegi, Azadi: Frau Leben Freiheit!“. Immer wieder fuhren Autos vorbei, die das mittlerweile berühmte Lied Baraye, das zu einer Ballade für den Aufstand geworden ist, laut abspielten. Und immer wieder nahm ich die Präsenz von unverschleierten Frauen wahr, die selbstbewusst, ja mit diesem unverhüllten Zeichen fordernd meine Wege passierten.
Es ist, als ob sich Teheran in einem hybriden Zustand befände, in dem Alltag und Revolution eine überraschende Gleichzeitigkeit eingehen, miteinander tanzen, eine schrille Symbiose bilden, die neue Vorgänge und Rituale herbeiführt. Dazu gehört das Ausrufen der Slogans des Aufstands jeweils um 21 Uhr aus den Fenstern heraus und über den Dächern der Stadt. Der nächtliche Chor bestärkt den Zusammenhalt und die Zuversicht aller Beteiligten.
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„Vielleicht übertreibe ich mit meinem Optimismus. Vielleicht möchte ich mich einfach dieser plötzlichen Zuversicht hingeben, weil ich mir sie so lange herbeigewünscht habe“, meinte ein politischer Weggefährte meiner Eltern, der mich drei Tage nach meiner Ankunft besuchte. Er gehört zu jener politisch gesinnten Gemeinschaft, mit der ich aufgewachsen bin, einer der wenigen aus der Reihe jener, der noch lebt. Ein pensionierter Professor und Chirurg, der sich trotz seines Alters gesellschaftlich engagiert. Ich hatte ihm zuletzt an dem vergangenen Jahrestag meiner Eltern gesehen. Mittlerweile ist er merklich älter geworden: sein Rücken geduckt, sein Gang schleichend hinter seinem Gehstock. Er erinnerte sich an die vergangenen Zeiten und an den stets aufs Neue erprobten Kampf für die Demokratie. Er zog Vergleiche zur aktuellen Lage, redete ununterbrochen, lachte hin und wieder herzhaft, während sein Blick voller Hoffnung strahlte. „Ich würde es so gerne sehen, den Wandel, den Sturz dieses Regimes. Auch für meine Kameraden, die trotz ihres großen Engagements diesen Wunsch mit ins Grab nehmen mussten“, erklärte er. Voller Begeisterung sprach er von dem Aufstand der jungen Frauen. „Wie Phönix sind sie der Asche entstiegen. Sie haben jahrelang den allumfassenden und ununterbrochenen Erniedrigungen des Regimes getrotzt, sich selbst ermächtigt, und haben es nun einfach satt, weiter bevormundet zu werden. Sie werden uns befreien, uns Männer, die wir sie nicht genügend wertgeschätzt und zu ihnen gehalten haben,“ sagte er. Dann sprach er von meiner Mutter: „Parvaneh war ein seltenes Juwel in unserer Partei, in unserer Generation. Wir- ihre Weggefährten- räumten ihr nicht den angemessenen Stellenwert ein. Wir waren nicht so weit wie sie. Sie wäre unendlich glücklich, würde sie jetzt leben.“
Die hoffnungsfrohe Euphorie, die mit diesem Aufstand einhergeht und in unterschiedlichen Gesprächen mitschwingt, besitzt aber auch eine tragische Kehrseite. Angesichts der perfiden Gewalt, die das Regime einsetzt, den Aufstand zu zerschlagen, erlebt man eine unbändige Wut, Entsetzen sogar Hass. Nicht nur die Zuversicht, auch diese geballte Wut liegt in der Luft.
Die „Sicherheitskommandos“ sind zu kriminellen Schlägertruppen mutiert. Sie erschießen und erschlagen wehrlose Menschen, ja sogar Kinder, randalieren in Straßen und Gassen, wo die Rufe nach Freiheit laut werden, zerstören geparkte Autos und Motorräder, attackieren Häuserfassaden und zerschlagen Fensterscheiben. Immer wieder kursieren Berichte über Misshandlungen und Vergewaltigungen als angeordnete Strafmaßnahmen an jungen Aufständischen und dass ihnen Medikamente verabreicht werden, die psychische Zusammenbrüche bewirken. Beim Anblick der vermummten, gepanzerten Gestalten, die die Staatsmacht repräsentieren und wild und manisch um sich schlagen, aber auch beim Blick der alten religiösen Prediger, die mit ihren niederen und vulgären Argumenten zu diffamieren versuchen, muss ich zunehmend an die aus der Zeit gefallenen Untoten denken.
Als ich am Dienstagnachmittag nach dem Besuch des alten Freundes meiner Eltern durch unser Viertel lief, packte mich wieder die Euphorie. Es war der erste Tag eines dreitägigen Streiks; die Geschäfte waren flächendeckend geschlossen.
Wenn ich in Teheran bin, öffne ich jeden Donnerstagnachmittag die Tür meines Elternhauses für Besucher. Über die Jahre bildete sich mit diesem Ritual eine Gemeinschaft heraus, die das Haus zu diesem Anlass mit Leben erfüllt. Es sind Regimekritiker, Angehörige der Hingerichteten aus vergangenen Jahrzehnten, Ex-Häftlinge, Frauenrechtler*innen, Journalist*innen und Kulturschaffende, die unter der ständigen Beobachtung der Kontrollorgane stehen. Sie kamen zahlreich und es herrschte ein großer Gesprächsbedarf. Neben der anhaltenden Begeisterung für den Aufstand und der Generation X als dessen treibende Kraft wurden gemeinsam auch Differenzen und Bedenken angesprochen und diskutiert. Wie stehe man zu den jungen Aufständischen in der Straßenschlacht, die im Unterschied zu ihren Vorgängern gegen die Sicherheitskräfte zurückschlagen? Wie stehe man zu diversen obszönen Schimpfworten, die als politische Parolen zunehmend populär werden? Oder zu der Aktion, den Mullahs die Turbane von ihrem Kopf zu schlagen? Werden solche radikalen Tendenzen den Aufstand in eine Spirale der Gewalt überführen? Wie beurteile man die Rolle der Exil-Sendungen und Exil-Oppositionellen, die die Repräsentation des Aufstandes in der Weltöffentlichkeit mitbestimmten? Ob die Gefahr bestehe, dass sie sich als Anführer der Bewegung profilierten, den wertvollen Prozess, der im Lande im Gange sei, in die Irre führten, um diesen für ihre eigenen machtpolitischen Ziele zu missbrauchen?
Die Meinungen hierzu gingen stark auseinander. Doch herrschte zeitgleich ein deutlich spürbarer Zusammenhalt: Ein starkes Wir-Gefühl, eine Einheit gegen das Regime. Ich hatte schon vor Ort den Eindruck, dass dieser Zusammenhalt die Unterschiede nicht verschweigen und negieren möchte. Eher im Gegenteil: Die Diversität des WIRs wird geschätzt, ja beschützt.
Als ich in die Runde nach der Möglichkeit einer Versammlung am Todestag meiner Eltern frage, erhalte ich keine eindeutige Einschätzung. Sie alle würden kommen, ob erlaubt oder verboten, wurde mir von allen versichert.
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Früh am Samstag stellte ich die Einladung zu der geplanten Gedenkversammlung am Dienstagnachmittag ins Netz. Sie breitete sich wie ein Lauffeuer aus. Nur zwei Stunden später erhielt ich einen Anruf von einer anonymen Nummer. Der Anrufer, der förmlich und höflich sprach, ohne sich persönlich vorzustellen, bestellte mich für den kommenden Tag zum Verhör in eines der Büros der Sicherheitskräfte. Es überraschte mich nicht, da bei meinen Reisen in den Iran solche Vorladungen längst zur Routine geworden sind. Die Sitzung wird grundsätzlich von zwei Beamten durchgeführt. Diese wechseln häufig. Trotzdem sind sie jedes Mal bestens über mein Leben informiert. Die Aktion läuft nach einem wiederkehrenden Muster, bei dem bestimmte Schlüsselsätze häufig und bewusst fallen.
„Nezam (auf deutsch System, ein Begriff, der ehrfürchtig ausgesprochen wird und das Regime meint) bedauert den Vorfall mit ihren Eltern“, „Überall auf der Welt passieren solche Vorfälle. Nezam hat aber nach den eigenen moralischen Maßstäben bereits entsprechend gehandelt und die Täter belangt“. Auf meine Gegendarstellung, dass meine Eltern Opfer von politischen Verbrechen wurden und es sich keineswegs um einen „Vorfall“ gehandelt habe, dass die Befehlsgeber der Morde, die namentlich in der Ermittlungsakte aufgeführt worden seien, wie der amtierende Informationsminister, nicht juristisch belangt wurden, gehen sie nicht ein. Das sei kein Thema dieser Sitzung, sondern die Aufgabe der Justiz, die sich an islamische Vorschriften und Gesetze hielte.
Ein weiteres Argumentationsmuster taucht bei der Frage der Verantwortung auf. Jedes Jahr muss ich mir anhören, dass ich für jegliche Eskalation der Versammlung, ob im Haus oder auch auf den benachbarten Straßen, verantwortlich sei und dafür auch belangt werden würde. Es wird behauptet, dass dubiöse Gestalten kommen würden, die den Anlass für eigene konterrevolutionäre Ziele missbrauchen und Unruhe stiften wollten. „Nezam könne das nicht dulden“, wird dabei immer wieder betont. Meine Versuche, Klarheit in die Sache zu bringen und zu hinterfragen, was eine Eskalation eigentlich sei und wer dubiös und kontrarevolutionär sein könnte, scheitern immer aufs Neue. Es ist ein zermürbender Prozess, den ich mich aussetzen muss. Wie lange das Verhör dauert und wieviel Druck auf mich ausgeübt wird, hängt von dem gerade herrschenden politischen Klima im Land ab. Der Brisanz der aktuellen Lage entsprechend dauerte diesmal die Sitzung länger an als in den vergangenen Jahren.
Am Schluss wurde mir ein Blatt Papier gereicht, damit ich den Zweck und den Ablauf der Versammlung schriftlich niederläge. Ein Routine-Protokoll, mit gleichbleibenden Komponenten hinsichtlich der Fragen nach dem warum, wo und wann. Diesmal war es mir jedoch ein Anliegen, schriftlich zu fixieren, dass Rufe nach Freiheit Teil unserer Versammlung sein würden. So auch die Parole: „Zan Zendegi Azadi- Frau Leben Freiheit“. Darauf folgte die Gegendarstellung des Beamten. Er bemerkte, dass Nezam entsprechend den islamischen Werten die Frauen und die Freiheit achte und hochschätze.
Am Ende der Sitzung erklärte der Beamte, der dem Verlauf mehr als Beobachter beigewohnt hatte, mit einem Satz, der einem Fazit gleichkommen sollte: „Frau Forouhar, Sie sind sehr unfair“. Als ich überrascht zu ihm aufblickte, ergänzte er, ich stellte alles im negativen Licht dar und verhielte mich Nezam gegenüber unfair. Auch diese Aussage entspricht einem wiederkehrenden Muster: Nezam und seine Handlanger übernehmen keine Verantwortung, eher beanspruchen sie in ihre eingespielte Taktik die Opferrolle für sich.
Auf dem Rückweg fuhr ich an mehreren Bannern vorbei, worauf war der 9-jährige Junge Kian, der jüngst während einer Protestaktion in der Stadt Ize getötet worden war, abgebildet. Das Auto, in dem Kian und seiner Familie saßen, war unter Beschuss geraten. Sein Vater wurde schwer verletzt. Seine Mutter äußerte sich in sozialen Netzwerken und benannte ein uniformiertes Sicherheitskommando als Täter. Nezam aber behauptete, dass dieser Anschlag von Terroristen der ISIS durchgeführt worden wäre. Gemäß dieser Auslegung wurde der 9-jähriger kaltschnäuzig zum Märtyrer der Islamischen Republik ernannt. Auf den Bannern war er lächelnd abgebildet, gekleidet im Anzug. Neben ihm war der Spruch zu lesen: „Refigh e Shahidam“, was so viel wie „Mein Märtyrer Kamerad“ bedeutet.
Angesichts der perfiden Umkehrung der Tatsachen und ratlos gegenüber dem Vorwurf Nezam gegenüber unfair gewesen zu sein, kann ich die Sprachlosigkeit die sich in den obszönen Parolen wiederspiegelt gut nachvollziehen.
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Am Todestag meiner Eltern bereitete ich gemeinsam mit einer kleinen Gruppe aus Verwandten und Freunden das Haus für die anstehende Versammlung vor. Einige zivilgekleidete Handlanger des Nezam hatten sich bereits seit dem frühen Vormittag vor dem Haus meiner Eltern verteilt und entlang unserer Gasse aufgestellt. Meine Sorge war groß: die Furcht vor einer Eskalation, vor einer Attacke der Schlägertrupps, die Angst um meine Gäste, die geschlagen werden könnten, um das Haus, das zum Schauplatz von wütendem Randalieren werden könnte, die Angst um meine betagten Tanten, die Tapferkeit ausstrahlten.
Die hochgewachsene Magnolie, die meine Mutter vor Jahrzehnten in unserem Garten angepflanzt hatte, die zu einem Baum angewachsen und im Laufe der letzten Jahre langsam eingegangen war, wurde mit kleinen Zetteln behängt, worauf geschrieben stand: „Zan Zendegi Azadi; Frau Leben Feiheit “. Später verbreiteten sich die Bilder des Baumes in den sozialen Netzwerken. Unter einem der Bilder stand geschrieben: „Der Baum, welchen Parvaneh vor Jahrzehnten eingepflanzt hat, trägt nun 24 Jahre nach ihrer Ermordung die schönsten Früchte unseres Landes“.
Schon vor dem angekündigten Beginn der Versammlung standen die Teilnehmer*innen dicht nebeneinander im Gebäude und im Hof des Hauses. Es herrschte eine Atmosphäre der Entschlossenheit und Achtsamkeit, gepaart mit der Freude am Beisammensein. Es kam mir vor, als ob die Menschen und das Haus zu einem großen Körper zusammengewachsen seien, der Würde ausstrahlte. Das Publikum war jung, vielleicht das Jüngste, welches das Haus bis zu diesem Zeitpunkt empfangen hatte.
Während der Veranstaltung gingen die vermumten Abgesandten der Kontrollorgane unsere Gasse auf und ab, filmten und fotografierten diejenigen, die sich dem Haus näherten mit überdimensionierten Kameras, mahnten sie vor Folgen, stifteten Angst und Unruhe.
Die schwere Last der Angst und der Unsicherheit, die ich vor und während meine Reise mit mir getragen hatte, fielen von mir ab als ich mich in der Runde der Anwesenden wiederfand, als wir gemeinsam die alte verbotene Hymne sangen, die meine Eltern so liebten, als wir gemeinsam laut des Slogans unserer Gegenwart anstimmten „Zan Zendegi Azadi“.
Ich verlies Iran nach ein paar Tagen. Meine Ausreise wurde nicht verhindert. Als ich schon zuhause in Deutschland war, wurden drei meiner Freunde, die bei der Veranstaltung zugegen waren, allesamt junge Poeten und Mitgliedern des Schriftstellerverbands, verhaftet. In den Berichten heißt es, die Verhaftungen seien gewaltvoll verlaufen. Sie hatten mir von einer Versammlung erzählt, die sie zum Andenken an die beiden ermordeten Schriftsteller Mohammad Mokhtari und Mohammad Jafar Pouyandeh organisieren wollten. Diese waren im Herbst 1998, zwei Wochen nach meinen Eltern, von dem Geheimdienst der Islamischen Republik verschleppt und getötet worden.
Am Ende dieses Berichts angelangt, möchte ich ihre Namen aussprechen: „Alireza Adineh, Ayda Amidi, Ruzbeh Sohani“- stellvertretend für mehr als 15.000 Menschen, die nun im Zuge der aktuellen Repressionswelle im Iran im Gefängnis sitzen. Stellvertretend für viele, für die das eigene Land zur Falle geworden ist, die vielleicht fliehen werden, um ihr Leben zu retten.
Das Exil hat viele Gesichter und Namen, unterschiedliche Herkünfte und Schicksale. Jedoch es entsteht immer aus solchen Momenten heraus.