for German Version scroll down
Lecture, Kunstpalast, Dusseldorf, 2004
Mit Schleier, ohne Schleier, Parastou Forouhar
Fundamentalismus und Kunst, Symposion im Museum kunst Palast
Düsseldorf, 17.03.2002
Es war ein Tag im Herbst 1984: Fast fünf Jahre waren seit dem Sieg der Revolution vergangen. Vor annähernd drei Jahren hatten die Fundamentalisten im Iran brutal die Macht übernommen.
Im riesigen Saal der Aula der Teheraner Universität fand die offizielle Immatrikulation für die neu aufgenommenen Studenten der unterschiedlichen Fachbereiche statt. Man durfte die Teheraner Kunstakademie, einen großen Komplex aus vier verschiedenen Gebäuden mit großzügigen Atelier- und Werkstatträumen, nur betreten, wenn man den Ausweis hatte, der an diesem Tag übergeben wurde.
Alphabetisch angeordnet und nach Geschlecht getrennt standen wir alle in Schlangen, die sich langsam voran bewegten. Gespräche, wenn sie überhaupt zustande kamen, waren leise. Blickkontakte wurden eher vermieden. Man wartete schweigsam auf den nächsten Schritt, den Ausweis. In den Männerschlangen weiter rechts liefen die Gespräche lauter und die Körperbewegungen nahmen mehr Raum ein.
Das neue gesellschaftliche Ordnungssystem bestand aus streng religiösen Regeln, die das öffentliche Leben bis zum kleinsten Detail vorschrieben. Um den Gehorsam der Bevölkerung zu potenzieren – aber auch zu überprüfen – waren Gelegenheiten wie eine Massen-Immatrikulation sehr geeignet.
Wir waren die ersten Studenten, die nach der Kulturrevolution aufgenommen wurden. Zwei Jahre lang waren alle Universitäten und Fachhochschulen geschlossen gewesen, da die neuen Herrscher des Landes das Bildungssystem islamisieren wollten. Im neuen Stundenplan wurden mehrere Stunden pro Woche für islamische Philosophie, islamische Scharia, islamische Moral, islamische Geschichte, aber auch Fach orientiert noch weitere islamische Fächer eingeführt. Spezifisch islamische Vorschriften wurden dem Regelwerk der Universität hinzugefügt. Viele Professoren wurden zum Anlass der Kulturrevolution entlassen. Manche von ihnen ließen sich einen Bart wachsen, veränderten ihre Garderobe, schlossen islamische Kurse ab, führten lange Gespräche und durften letztendlich bleiben.
Es war eine schneidende Zeit. Die neuen Herrscher des Landes, ein breites Netz von Menschen, die aus den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Schichten und Gruppen stammten, waren vereint in ihrer demonstrativ-strengen Religiosität und hatten die Zügel fest in der Hand. Ihnen war jedes Mittel recht, ihre flächendeckende Macht und Kontrolle zu festigen.
Der Krieg nahm täglich seine Opfer.
Das Leben war bedroht. Die Islamisten verstanden diese Bedrohung eher als eine Herausforderung, um sich nach dem Tod für ein Leben im Himmel zu qualifizieren.
Für viele andere führte die Bedrohung in die große Zeit der Depression. Man versteckte die eigenen Wunden, um weitere Verletzungen zu vermeiden.
Massenhaft landeten Andersdenkende in den Gefängnissen. Andere suchten im Exil eine Befreiung, darunter Kinder, die nicht älter waren als fünfzehn. Viele kamen ums Leben.
Täglich wurden Listen mit den Namen derer, die an diesem Tag exekutiert worden waren, veröffentlicht.
Mein Vater, einer der aktivsten Oppositionellen aus der Schah-Zeit, der die Revolution in großer Hoffnung auf eine künftige Demokratie mitgestaltet hatte, landete wieder im Gefängnis. Meine Mutter, die leidenschaftliche Demokratin war, schwankte zwischen schweigsamen Stunden und Wutausbrüchen.
Ich selbst hatte mich eher versteckt. In den weichen Anblick meines neugeborenen Sohnes und das sinnliche Angebot der Malerei. Exemplarisch für viele in meiner Generation war ich innerlich erschrocken und spürte, daß man mich meiner Zukunft und Ideale beraubt hatte. Das Studium war eine Möglichkeit, wieder vorsichtig in die Zukunft zu schauen und langfristige Pläne zu machen – eher Bilder zu malen, als der Utopie der Revolution nachzuhängen.
Fünf Jahre lang studierte ich an der Teheraner Kunstakademie. Die Atelierräume waren nach Geschlecht getrennt; meistens mitten im Raum, durch eine Reihe hochaufgestellter Metallspinde. Der kleinere Teil am Ende des Raumes wurde den Frauen zugeteilt. In den Theorieklassen gab es keine Wand in der Mitte, aber die Frauen saßen meistens in den hinteren Reihen. Ausnahmefälle wurden als auffällig registriert. Mann bevorzugte es, wenn die männlichen und weiblichen Studenten den Kontakt zueinander beschränkten. Um die islamische Vorgabe der Trennung von öffentlichem Raum und Sexualität durchzusetzen, wurde bevorzugt, dass männliche und weibliche Studenten sich mit „Bruder“ und „Schwester“ ansprechen und sich gegenseitig nicht ansehen sollten.
Die körperliche Präsenz der Frauen wurde auf das notwendigste beschränkt, selbstverständlich vollständig verhüllt.
Manche Männer dagegen trugen Bärte und Armee-Anoraks als Zeichen ihrer Solidarität im Kampf gegen den Irak. Sie trugen einfache Hosen und hoch geknöpfte Hemden, Körperbewegungen, die eine Mischung aus orientalich-männlichem Selbstbewusstsein und auffälliger „Anti-Eleganz“ darstellten, genossen an der Akademie das größte Recht auf Präsenz. Die anderen Männer hatten sich unterzuordnen.
Bei den zahlreichen Zeichenstunden haben wir im Park der Uni Bäume und Büsche mit Gebäuden im Hintergrund gezeichnet. Im Atelier menschliche Modelle, unzertrennlich von ihren weit sitzenden Klamotten. Stilleben standen ganz unten in der Hierarchie. Die Alltäglichkeit dieses Genres war nicht mit dem Propaganda orientierten Wertesystem der Islamisten zu vereinbaren. In höheren Semestern genossen wir die Möglichkeit, die Muskelpartien der großen männlichen und tierischen Gipsfiguren nachzuzeichnen – deren Geschlechtsteile waren allerdings verborgen. Ein beliebtes Programm war das Zeichnen der Menschen bei ihrer körperlichen Arbeit: In der Bäckerei, auf der Baustelle und in der Werkstatt. Bei solchen Ausflügen mussten Frauen sich noch unsichtbarer verhalten.
In der Auseinandersetzung mit unserem Hauptfach Malerei hatten wir uns nach einer langen Phase des Erwerbens von Grundkenntnissen und Aufbau malerischen Könnens, das nach dem Vorbild eines lässigen Naturrealismus gelehrt wurde, mit Inhalten zu beschäftigen:
Um der Revolution zu dienen, malten die „Getreuen“ Kriegsszenen, Märtyrer und kleine Kinder, die um ihre gefallenen Väter trauern. Beliebt waren auch Darstellungen religiöser Zeremonien, die hauptsächlich Trauerfeiern um die Heiligen zeigten. Porträts der Groß-Ayatollahs wurden zwischendurch gemalt.
Um der Verpflichtung, dem Volk nahe zu sein, gerecht zu werden, malten manche Studenten und Studentinnen folkloristische Bilder. Diese Tendenz war nicht nur bei den religiös motivierten festzustellen, sondern als Folge der Revolution bei vielen zu beobachten.
Von denjenigen Studenten, die sich innerlich als Gegner des Systems verstanden, strebten viele nach der Erschaffung von Bildern, die eine Sehnsucht ausdrückten. Resultate waren hauptsächlich nostalgische Abbildungen von Alltagsituationen und Gegenständen, manchmal übertrieben in jämmerlichem Selbstmitleid. In solchen Bildern wurden immer wieder Symbole – oder eher Codierungen – benutzt, die versteckte Bedeutungen transportieren sollten. Diese klischeehaften Codierungen, die ursprünglich die Möglichkeit geboten hatten, freie Gedanken bildhaft zu formulieren, verursachten inzwischen selbst eine Enge und unerträgliche Flachheit.
Ein paralleler Ansatz bei der Suche nach Inhalten war die Auseinandersetzung mit der altpersisch-islamischen Malerei und die Überprüfung der Möglichkeiten bei deren Wiederbelebung. Neben der aktuellen, islamisch und kämpferisch geprägten Identität des Landes, wollte man auch seine traditionell und historisch geprägten Wurzeln nicht außer Acht lassen. Der Forschungsaspekt dieser Aufgabe bot vielen von uns einen gesünderen Rahmen der Auseinandersetzung, der manchmal spielerische oder poetische Ansätze sichtbar machte. Diese Bilder wurden von den religiösen Herrschern der Akademie herablassend geduldet. Der Professor, der den Kurs leitete, wurde allerdings später entlassen.
Die religiösen Kurse waren Pflicht und beanspruchten mehrere Stunden pro Woche.
Bei dem Kurs in islamischer Kunstgeschichte wurden wir Zeuge der Aufstellung mancher revolutionärer These, wie z.B. dass die erste Moschee, welche der Prophet Mohammed selbst mitgebaut hatte und die aus drei Lehmwänden und einem Dach aus Palmenblättern bestand, zum bedeutendsten und schönsten Architekturdenkmal der Geschichte erklärt wurde.
Die westliche Kunstgeschichte wurde in Einbettung ihrer sozialen Entwicklung erläutert. Unterichtet wurde bis zur klassischen Moderne. Der sowjetischen Kunst wurde im Vergleich zur westlichen Kunst größerer Respekt zugesprochen, da man trotz ideologischer Differenzen dieser Kunst eine inhaltliche Kompetenz zusprach. Der westlichen Kunst wurde Verdorbenheit und Genussorientierung vorgeworfen.
Der übertriebene Individualismus, den man als Folge der Abwendung von der Religion ansah, wurde als Ursache der Sackgasse dargestellt, in der sich die westliche Kunst und Kultur befänden. Die Argumente genügten sich selbst und brauchten keine Beweise.
Die Bücherei der Kunstakademie hatte den Hütern der islamischen Werte viel Arbeit gemacht: Tausende von Katalogen und Büchern, hauptsächlich über westliche Kunst und das Erbe aus der Zeit vor der Revolution, mussten sorgfältig zensiert werden. Nicht die Texte, sondern die Bilder wurden mit schwarzem Edding überstrichen. Nackte Frauenkörper und der Genitalbereich der nackten Männer wurden schwarz übermalt.
In einer so aufdringlichen Struktur, in der jede Form öffentlichen Lebens von religiösen Vorstellungen bestimmt wurde, bot allein der private Rahmen eine begrenzte Möglichkeit der Selbstbestimmung.
Der Kontrast zwischen öffentlichem und privatem Leben wurde im Laufe der Zeit immer größer. Damit bekamen schizophrene Verhaltensweisen eine Selbstverständlichkeit. Die berechtigte Anstrengung nach Selbstschutz, die selbstverständlich erscheint, hat allerdings verheerende Folgen für die eigene Seele. Die aufgedrängte Zensur verursachte bewusste, aber auch unbewusste Selbstzensur. Diese breitete sich immer mehr aus. Die Definition von Selbstachtung und freiem Denken wurde dadurch immer fragiler und verschwommener.
Aus der Gegenwart heraus scheint mir die Situation von damals härter, als es sich seiner Zeit anfühlte. Mein Studium scheint mir heute als eine sinnlose Beschäftigung, und vor allem weit entfernt von Kunst.
Die Erkenntnisse und Wahrnehmungen dieser Zeit, aber auch alles an der Akademie gelernte, bieten sich erst jetzt als Möglichkeit zu Reflektion und schöpferischem Denken. Eher aus der Distanz und befreit von den Zwängen der gesellschaftlichen Strukturen, kann ich sie und ihre Merkmale neu aufgreifen, um sie als Sprungbrett für mein gegenwärtiges künstlerisches Denken zu benutzen.
Eine Methode, die ich mir als Person, die sich zwei Welten zugehörig fühlt, angeeignet habe, um Zusammenhänge zu begreifen und mir zu veranschaulichen, ist das Entdecken von Parallelität in unterschiedlichen Strukturen. Beispiel:
In den altpersischen Miniaturen ist die Präsenz des Menschen, wie in einer von Fundamentalismus befallenen Gesellschaft, als Teil einer „ornamentalen“ Ordnung zu begreifen. Eine individuelle Auffassung existiert nicht.
Es wird der Versuch unternommen, eine trügerische Oberfläche aus wiederholten, miteinander harmonierenden Mustern zu schaffen. Der Blick gleitet von der kurvigen Linie der Körperdarstellung von Figuren zu den kurvigen Tannen, weichen Wolken, Kuppeln und Hügeln. Alle Flächen sind mit den Schwingungen dieser Muster gefüllt.
Eine harmonische Weltdarstellung, Zeichen der göttlichen Allmacht und ihrer Schönheit. Alles soll einer einzigen Aussage, einem einzigen Inhalt dienen: Gott ist groß und vollkommen. Diese unantastbare Harmonie ist nur mit Distanz zu genießen. Sie verbirgt ein großes Potential an Brutalität in sich.
Was sich dieser ornamentalen Ordnung nicht unterwirft, ist nicht darstellbar, und damit nicht existent, wird in die Peripherie der Unwürdigen verbannt, zur Vernichtung verurteilt.
Verblüffend aktuell und nah fühlt diese Beschreibung sich an und gibt mir die Möglichkeit, eine weitere Parallele aufzustellen, diesmal zu den aktuellen politischen Zielsetzungen des amerikanischen Präsidenten. Wie er als „neuzeitlicher Prophet“ die „Achse des Bösen“ definiert, Kreuzzüge durch die Weltkarte anordnet, und seine Cyberspace-Soldaten überall auf unserem Planeten platziert. Emotional schwankende Fahnen, wiederholtes Aufstehen und Klatschen bei seinen Auftritten, die durch Popkultur unterstützte Nationalhymne, pathetische Blicke in feuchte Augen scheinen wie Muster, die sich durch ihre Wiederholung selbst bestätigen und rasch ausbreiten. Ihr schnelles Wachstum beraubt uns der notwendigen Zeit zum Nachdenken und Reflektieren. Alles, was sich diesem Muster nicht unterordnet, wird als Solidarität mit den Terroristen definiert. Trägt Amerikas Auftritt Züge eines neuen Fundamentalismus?
Den islamischen Fundamentalismus verabscheue ich zutiefst. In meiner Heimat, wie in vielen anderen Ländern, sind unzählige wunderbare Menschen Opfer dieser bestialischen Denkweise geworden. Demokratische Bewegungen sind regelrecht niedergemetzelt worden. Freies Denken und Phantasieren tragen die unheilbaren Wunden ihrer religiösen Stiche. Seit mehreren Jahrzehnten leisten die Menschen Widerstand und versuchen, für ihren aufrichtigen Protest hier im Westen, in demokratisch regierten Ländern, nicht nur Sympatie, sondern aktive, wirksame Unterstützung zu erhalten. Erst jetzt, nachdem der Westen Schmerzen am eigenen Leibe spürt, rückt das Thema in den Mittelpunkt des Interesses.
Schwankend zwischen Euphorie und Zynismus versuche ich seit dem 11. September, die Ereignisse zu begreifen. Oft habe ich mir gesagt und in Diskussionen leidenschaftlich wiederholt, dass in der Erörterung des Islamismus eine große Chance für die Demokratie steckt und dass dieser Prozess hier im Westen den Opfern des Fundamentalismus, auch in meinem Heimatland, zugute kommt und deren Anstrengungen nach Demokratie Rückendeckung verleiht. Aber je mehr Zeit vergeht, desto größer werden mein Zorn und meine Wut. Zynismus triumphiert in meinen Gedanken.
Unser Leben ist in den letzten Monaten um viele groteske Bilder und Begriffe reicher geworden, um so viele Fragen, die keine Antwort haben:
Ist der Angriff auf die Islamisten zu trennen vom Angriff auf Afghanistan?
Sind militärische Angriffe wieder ein wichtiger Teil der Weltpolitik geworden? Und wenn ja, sind sie nur legitim, wenn sie von westlichen Ländern durchgeführt werden? Welchen Unterschied macht es, ob sie im Namen der Demokratie geschehen, oder im Namen Allahs?
Was mache ich mit der Sympathie, die ich innerlich für die kleinen Krieger aus Palästina empfinde? Die kleinen Kinder, die im Lager geboren sind, und die israelische Panzer mit Steinen bekämpfen. Werden aus ihnen auch Mörder, wenn sie alt genug sind, um ihre Steine gegen Granaten einzutauschen? Oder sind sie schon als Mörder geboren? Wie kann man sie begreifen? Sind sie Fundamentalisten im Kleinformat oder einfach Kinder in Not?
Wird Fundamentalismus als eine Form des Widerstands verstanden, oder ist es ein böswilliges Geschwür, das alles Gesunde befällt und eine menschenleere Wüste hinterlässt? Ist er etwas, das herausoperiert werden muss – mit Bomben, welche die Demokratie schickt?
Den Argumenten der “realen Politik” fühle ich mich nicht verpflichtet. Sie versagen immer mehr unter dem Gewicht der existenziellen Fragen.
Ich will nur begreifen, was mit den wirklichen Menschen passiert und wo die realen Utopien der Menschen bleiben? Ob uns in Zukunft überhaupt noch Raum für reale Utopien erhalten bleibt.
Ob sie noch im Zentrum der schöpferischen Prozesse der Weltgestaltung angesiedelt sind – oder in die Peripherie der Träumer und Spinner abgeschoben werden.
Leben in der Welt der altpersischen Miniaturen ist ein unerträglicher Zustand. Die Menschen bekommen ihren Platz, ihre Körperhaltung und ihre Farbe zugewiesen, so dass sie durch ihre Präsenz die ornamentale Ordnung und die allgemeingültige Aussage bestärken. Ich bin mit großer Anstrengung dieser Rolle entkommen und weigere mich in einen ähnlichen Zustand zurückzufallen und mich in die erstickende Welt der Muster zu begeben. Auch wenn sie farbenfroher und variantenreicher wäre.
< Back