Vom 3.11 bis 3.12.2010, VHS Offenbach
Parastou Forouhar berichtet über ihre Erfahrungen im Iran und mit der Islamischen Republik.
Zunächst möchte ich sagen, dass ich mich sehr geehrt fühle, heute, zum Auftakt diese Veranstaltungsreihe, über die iranische Frauen sprechen zu dürfen – über das permanente Unrecht, dem sie ausgesetzt sind, über ihre unermüdliche Anstrengung, diesem Unrecht zu entkommen.
Anfangen möchte ich mit der Vorstellung der Dame deren Foto ich neben mir habe – Nasrin Sotoudeh. Sie ist Anwältin und zweifache Mütter. Ihre Kinder sind 4 und 10 Jahre alt. Nasrin Sotoudeh sitzt seit dem 4. September in Haft. Der Grund dafür ist, dass sie während der letzten Jahre politische Gefangene verteidigt hat und den Drohungen zum Trotz nicht aufgehört hat, über ihre Schicksale zu berichten. Dass sie der Frauenbewegung im Iran angehört und diese im Laufe der Jahre mit ihrer juristischen Unterstützungen gestärkt hatte.
Das sind Informationen, die man über sie liest, in den Medien, in Eilbriefen der Menschenrechtsorganisationen an die Behörden der Islamischen Republik, in zahlreichen Petitionen, die im Internet kursieren und ihre Freilassung fordern.
Aber ich kenne sie persönlich und möchte sie Ihnen vorstellen, wie ich sie in Erinnerung habe. Oftmals beobachtete ich sie, wie sie den Menschen und den Frauenrechtaktivisten juristische Ratschläge gab. Sie sprach ruhig und beherrscht, artikulierte mit Gesetzen und Paragraphen. Der Blick in ihre Augen blieb stets unerschrocken, sogar distanziert, da sie sich in jeder verzwickten Situation zu rechtlichen, machbaren Auswegen verpflichtet sah. Das ist keine einfache Aufgabe, da die Gesetze sehr oft in ihren Augen ungerecht sind, was sie auch in Nebensätzen erwähnt – doch sie sind nun mal das einzige Instrument, das sie zur Verfügung hat. Sie schluckte ihre Wut herunter, um konstruktiv zu bleiben und ihren sachlichen Optimismus nicht zu verlieren. Ich habe sie aber auch beobachtet, wie sie solche Gespräche unterbrach wenn ihr Handy klingelte und eines ihre Kinder sie sprechen wollte. Dann wurde ihre Stimme weich, in ihren Augen leuchtete der sanfte Blick der Fürsorge und sie versprach die einfachen Versprechungen einer Mutter.
Nasrins Handlungsweisen und Charakter zeigen de-eskalierende Merkmale auf. Heldentaten wie fristloser Hungerstreik passen nicht in ihr Schema. Sie befand sich aber 30 Tagen im Hungerstreik. Niemand weißt wie und wieso sie diese beendete.
Ihre Haftbedingungen müssen so unerträglich gewesen sein, dass ihre sachlichen Argumente und ihre verhaltene Art sie nicht mehr tragen konnten.
Es tut mir unendlich weh zu denken, dass sie so weit getrieben worden ist, dass sie ihren Körper als letztes Mittel zu Verteidigung eigener Rechte einsetzen musste.
Die Ratlosigkeit, die sie in ihrer kleinen Zelle überwältigt haben muss, setzt sich in mir fort und tut mir weh.
Diese verflixte Ratlosigkeit ist zu einem zentralen Begriff geworden, der durch die Zeit, die Zustände benennt, in denen wir uns wieder finden.
Wenn ich zurück denke, begegne ich dieser Ratlosigkeit wiederholt und spüre die angestaute Wut im Bauch.
Ich möchte Sie mitnehmen entlang der Spur dieser Ratlosigkeit und Ihnen einige meiner Erlebnisse, Eindrücke und Beobachtungen schildern, die mich im Laufe der Jahre geprägt haben und zu einer Mitstreiterin der iranischen Frauenbewegung machten.
Es sind Momentaufnahmen, die wie Mosaiksteine nebeneinander gesetzt sind und eine Landschaft bilden, in der das weibliche Leben im Iran stattfindet, gefangen gehalten wird, aber auch Widerstand leistet.
Anfangen möchte ich in der Mitte der 80er Jahre, als ich selbst langsam zu einer Frau heranwuchs, mit der Bibliothek der Teheraner Kunstakademie, wo ich studierte. Es war eine große Bibliothek mit geordneten Holzregalen rundherum, voller wertvoller Bücher und Kataloge über die lange Kunstgeschichte unsere Erde. Diese Bücher wurden, wie alle anderen Güter des Bildungssystems im Lande, im Zuge der Kulturrevolution islamisiert. Auf jeder Seite der zahlreichen Bücher diese Bibliothek wurden Abbildungen der weiblichen Körper mit schwarzen, fetten Edding-Strichen überzogen. Damit entkamen sogar Bilder nicht der Zwangsverschleierung!
Es war die Zeit der Hinrichtungen, der Angststarre, der Flucht und der inneren Emigration. Da offene Proteste nicht mehr denkbar waren, bemühten sich Mann und Frau um Normalität.
Wir, die Frauen im Gottesstaat, haben unseren Schleier mehr oder weniger so getragen, als ob es ein Teil von uns wäre. Die schwarzen Edding-Striche auf den Bildern zeigten aber ungeschönt die Verhältnisse unseres Daseins und machten die Angriffe auf den weiblichen Körper und die menschliche Existenz und ihre Verstümmelung sichtbar.
Einige Jahre später und fast am Ende meines Studiums, saß ich eines Tages in einem verdunkelten Saal bei einer Vorlesung über die „Kunstgeschichte der Moderne“. Der Professor, der sich ständig um einen Spagat zwischen einem freiheitlichen Denken einerseits und den islamischen Vorschriften in der Akademie anderseits bemühte, zeigte Bilder aus der Epoche der Expressionisten. Er sprach ausgewählt, kontrolliert und mit gezähmter Leidenschaft über die Rebellion der Künstler dieser Epoche und projizierte ihre Beispielswerke auf die Leinwand.
Als eine deformierte Gestalt in grell-gelber Farbe und mit lang gezogenen blauen Strichen am Kopf in einem Gemälde von Emile Nolde auf der Leinwand erschien, schlug ein männlicher Student mit flachen Händen auf den Tisch und schrie mehrmals laut: „Schämen Sie sich, so unsittliche Bilder zu zeigen!“ Der Professor machte den Projektor aus. Wir saßen in der Dunkelheit und er bemühte sich vergeblich um Schadensbegrenzung. Der Student verließ aber den Raum, knallte die Tür zu und der Professor wurde einige Zeit später entlassen.
Der weibliche Körper war ein Terrain, das vom Gottesstaat reglementiert und stark überwacht wurde. Große und kleine Schrifttafeln in der Öffentlichkeit erinnerten uns an diese Reglementierung: „Schwester!“ hieß es da beispielsweise, „dein Hedjab ist meine Ehre“ oder „meine Fahne!“ oder sogar „Fahne des Islams!“.
Das Subjekt dieser Sätze war immer männlich und gläubig.
Anfang der 90er Jahre und nach meinem Studium verließ ich den Iran, um weiter zu studieren und andere Lebensformen außerhalb der Grenzen des Gottesstaates zu erfahren.
Für die nächsten Jahre stellten meine Eltern, beide oppositionelle Politiker im Iran, die Hauptverbindung zu meinem Heimatland dar. Alles was ich an diesem Land liebte, die schöne Schrift, die Lyrik der Sprache, die Geborgenheit der Erinnerungen, verband sich auf eine selbstverständliche Art mit diesen beiden Personen. Diese Beziehung verschonte mich aber nicht von der Realität des Landes. Meine Eltern schickten mir beispielsweise regelmäßig per Fax ein verbotenes Nachrichtenbulletin, das sie wöchentlich im Iran veröffentlichten. Ich las die eng aneinander gereihten Kurznachrichten über die Missstände im Lande.
Es war im Jahre 1994, als ich auf einem dieser Faxblätter die Nachricht vom Selbstmord einer alten Mitstreiterin meiner Mutter las: Eine Professorin, die trotz ihrer unersetzlichen Fachkompetenz in Psychologie von ihrem Lehrstuhl und Forschungsstelle ausgeschlossen wurde, weil sie sich den strengen islamischen Vorschriften widersetzte. Nach ihrer Entlassung wurde sie depressiv, verlor ihren Lebenssinn und verbrannte sich dann öffentlich in der Nähe ihrer Praxis als letztes Zeichen ihres Protests. Zwei Tage danach erlag sie ihren Verletzungen.
Nachrichten über Selbstmorde von Frauen, die in der Sackgasse des Gottesstaates keinen Ausweg finden konnten, häuften sich.
Beeinflusst von diesen Nachrichten zeichnete ich eine Serie von Selbstmörderinnen, die ich Suizidkalender – Fem. nannte. In dieser Serie hatte ich, wie in vielen meiner Arbeiten, eine ornamentale und ästhetische Oberfläche geschaffen, die die Geschehnisse auf dem Bild, die Szenarien von Selbstmorden, hinter einer harmonischen Schönheit verschleierten oder sogar versteckten.
Ich stellte diese Serie von Zeichnungen im Jahre 1999 in einer Teheraner Galerie aus. Die für die Zensur zuständigen Beamten des Kulturministeriums waren in dieser Phase nachsichtiger als die Jahre zuvor und die Rezipienten, die im genaueren Hinschauen geübt waren, nahmen die darin verborgenen Inhalte wahr.
Es war eine ambivalente Zeit für die iranische Gesellschaft. Einerseits eine Zeit der Versprechungen der Reformisten auf mehr Freiheit, die dann auch in der Bevölkerung viele zerbrechliche Hoffnungen hervorgerufen hatten. Andererseits eine Zeit heimtückischer Attacken auf Dissidenten, eine Zeit der politischen Morde, der blutigen Unterdrückung der Studentenbewegung und des Verbots der kritischen Presse.
Meine Ausstellung fand nur ein Jahr nach der Ermordung meiner Eltern statt. In einer Zeit, in der ich mich für die juristische Aufklärung dieser politischen Verbrechen einsetzte und deswegen sehr oft nach Teheran reiste. Immer wieder saß ich in den Warteräumen des Justizapparates und wurde Zeugin des alltäglichen Ringens der Bürger mit der Justiz.
An einem Sommertag saßen mir gegenüber zwei in Tschador verhüllte Frauen: eine Mutter und ihre Tochter. Die Mutter ermutigte wiederholt ihre schweigsame Tochter, um ihre Scheidung zu kämpfen. Die Tochter schaute traurig und erschöpft auf das Lächeln die Mutter. Die Mutter war gekommen, um mit dem Chef, einem geistlichen Richter, zu sprechen, in dessen Händen das Schicksal ihrer Tochter lag.
Sie wollte aussagen, dass der Schwiegersohn ihre Tochter wiederholt misshandelt hatte. Sie hatte medizinische Unterlagen über die letzten Verletzungen dabei. Ich saß immer noch da, als die Frauen aus dem Büro des Leiters herauskamen.
Die Mutter schrie aufgebracht, dass der Richter aus ihr noch eine Mörderin machen würde, dass sie nicht tatenlos zu sehen werde, wie ihre Tochter langsam in den Tod getrieben wird, dass sie diesen Mann, ihren Schwiegersohn, eher töten würde, als dass sie zuließe, dass dieser ihre geliebte Tochter tötete. Die Tochter aber schaute nur schweigsam und erschöpft auf ihre Mutter.
Im Jahre 2000 und im Monat September erhielt ich ein Schreiben des Teheraner Militärgerichts. Darin teilte man mir das Ende der Ermittlungen in der Mordakte meiner Eltern mit.
Die Ermittlungen hatten zwei Jahre gedauert. Sie waren durch widersprüchliche Aussagen auf höchster Ebene gekennzeichnet. Bis dahin wurden mir und meinen Anwälten mit der Begründung, es berühre die innere Sicherheit des Landes, Einblicke in die Akte verweigert. Ich reiste erneut nach Teheran, in der Hoffnung, in dieser heiklen Angelegenheit Antworten von einem Richter am eigens dafür einberufenen Sondergericht zu erhalten. 18 Mitarbeiter des Geheimdienstes wurden der Tat beschuldigt. Zum ersten Mal sollten hochrangige Beamte des Gottesstaates wegen der Ermordung von Oppositionellen vor Gericht gestellt werden.
In Begleitung meiner Anwältin, die später mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde, wurde ich bei dem Richter vorstellig. Er begann einen langen Monolog im Namen Allahs. Er teilte uns mit, dass dieser Fall unnötig verkompliziert worden sei, und er Klarheit schaffen werde.
Es seien Morde passiert, die Mörder hätten gestanden und würden von ihm der Scharia entsprechend verurteilt. Politische Diskussionen seien in diesem Falle nicht angebracht und abwegig. Dann fügte er noch einen Satz hinzu, der sich mir wie eine ewige Wunde einbrannte: sollte ich die Hinrichtung des Mörders meiner Mutter verlangen, so müsste ich laut Scharia die Hälfte des Blutgeldes an die Familie des Mörders zahlen. Das Gesetz erinnerte mich schmerzvoll daran, dass in meinem Land das Leben einer Frau nur halb so viel wert ist wie das eines Mannes und sei es der Mörder meiner Mutter.
Im Laufe der Jahre, in denen ich mich für die Aufklärung der politischen Morde an meinen Eltern und weiterer politischer Verbrechen des Regimes einsetzte, habe ich viele Hinterbliebene der Opfer kennen gelernt. Sehr oft sind es Frauen. Frauen, die die Erinnerung an die Opfer bewahren, die die ganze Last der Tragödie tragen und gleichzeitig auch das Leben gestalten müssen.
Eine Gruppe diese Frauen nennen sich Khavarans Mütter. Khavaran ist der Name eines Friedhofes am Rande der Stadt Teheran, wo die Begrabenen keinen Grabstein und keinen Namen haben dürfen. Dort liegen in Massengräbern Hunderte von Hingerichteten und dort liegen die Mitglieder der Bahaie Gemeinde, alle sogennanten Abtrünnigen und Gotteslästerer. Die Khavaran Mütter lassen diesen Ort und ihre Kinder, die dort ruhen, nicht in Vergessenheit geraten.
Einmal besuchte mich eine dieser Mütter- eine Großmutter, die mich zusammen mit ihrer Enkelin in meinem Elternhaus in Teheran aufsuchte. Sie umarmte mich herzlich und sagte mir leise, dass sie ihr „Mädchen“ zu mir gebracht habe, um ihr zu zeigen, dass sie nicht alleine sei mit ihrem Schicksal. Die Eltern des Mädchens waren in den 80er Jahren mit Anfang zwanzig hingerichtet worden. Das zurückgelassene Enkelkind wurde der Großmutter übergeben. Sie schaute mich erwartungsvoll an, damit ich ihrer Enkelin Mut und Zuversicht zuspräche und ich tat es. Ich erfülle sehr oft diese Wünsche, weil ich die tapfere Geduld dieser Frauen bewundere und ihren fragilen Glauben an die Gerechtigkeit teile. Sie erinnern mich an meine eigene Mutter und sie verkörpern für mich die mühsame Aufrichtigkeit, die notwendig ist, um Widerstand zu leisten gegen die Lügen und Verleumdungen, die zum Handwerkszeug des Regimes geworden sind und die weiterhin eingesetzt werden.
Gegen diese permanente Lügenmaschine des Regimes erhob sich im letzten Sommer die iranische Zivilgesellschaft. Die ganze Welt wurde Zeuge dieses Aufstands, Zeuge eines neuen Bildes, das der Iran von sich zeigte: Eine hoffnungsvolle Erhebung, um ein großes und einfaches Ziel zu erreichen: Das Recht auf eine selbst bestimmte Zukunft, die den Weg zu Rechtstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechten weiter öffnet.
Das zivilgesellschaftliche Potential, das sich in der Erhebung zeigte, erfüllte uns mit großer Hoffnung und Bewunderung und veranlasste uns, unsere Energien für die Fortsetzung dieses eingeschlagenen Weges einzusetzen.
Aber diese viel versprechende Bewegung wurde durch ein System aus religiöser Bevormundung und militärischer und paramilitärischer Gewalt brutal niedergekämpft.
Wieder wurde die Weltöffentlichkeit Zeuge einer Brutalität, die jedes erdenkliche Maß überschritt und den Iran wieder verletzte – verletzte in Form der Körper vieler Menschen, die geschlagen, verschleppt und auch heimtückisch ermordet wurden.
Verletzt aber auch an seiner jungen Seele, die auf eine Veränderung gesetzt hatte, um diese Hoffnung aber betrogen wurde.
Zum Symbolbild für diese Verletzung wurde eine junge Frau, die vor der Kamera und den Augen der Weltöffentlichkeit ihr Leben lassen musste. Ein Beweis für die abermaligen großen Lügen des Regimes. Ein Beweis für die kaltblütige Leugnung des Einsatzes brutaler Gewalt, ein Beleg auch für die Tausenden von Toten der letzten Jahrzehnte, für heimliche Hinrichtungen, für Leichen, die in Massengräbern verscharrt wurden.
Symbolbilder leben nicht nur aus den Abgebildeten selbst. Sie repräsentieren immer auch alle anderen mit, alle Bilderlosen – alle Unsichtbaren.
Es sind zu Bild gewordene Wahrheiten, die beständig sein werden. Das Symbolbild für den Iran wurde zum ersten Mal weiblich.
Ich war in Hannover, als ich die Szene der sterbenden Neda sah. Viele Iranerinnen waren aus aller Welt nach Hannover gekommen, um an der jährlichen Konferenz der iranian weman studies foundation teilzunehmen. Wir schauten im Vorraum der Konferenz auf zahlreiche kleine Monitore und waren erstarrt in unsere Trauer und Wut.
Als ich nach der Konferenz nach Hause zurückkehrte, saß ich wieder vor dem Bildschirm meines Rechners und verfolgte wie gebannt die Ereignisse im Iran. Bilder und Videos, die die Proteste sichtbar machten und Eindrücke und Empfindungen, Hoffnung und Schmerz zeigten.
Und zwischen diesen Tausenden von Bildern, gab es eine Aufnahme, die mich zutiefst bewegte. Es war wieder eine Videoaufnahme von einer Frau.
Man sieht in diesem Video die dunkle Nacht, durchlöchert von vielen kleinen Lichtern und hört von vereinzelten Dächern irgendwo in der Stadt Teheran zahlreiche Protestrufe.
Es herrscht eine ermutigende und zugleich auch traurige Stimmung. Aus dem Hintergrund hört man die anklagende, zitternde Stimme einer jungen Frau.
Sie stellt ihre Fragen in die Nacht hinein:
Wo ist das hier, wo wir unschuldig in der Falle sitzen?
Wo uns keiner hilft?
Wo wir nur durch unser Schweigen, der Welt gegenüber unseren Ruf nach Freiheit hörbar machen können?
Diese Falle ist Meine und Deine Heimat Iran!“
Ihre Worte sind nicht nur Klage sondern auch Anklage, unsere gemeinsame Anklage, die aus dem Munde einer unbekannten Frau zur Sprache kommt.
Eine Anklage gegen die Falle der Diktatur, in der unsere Schicksale gefangen sind, und in der unsere geliebten Menschen als Strafe für ihre Aufrichtigkeit und Zivilcourage, Opfer von politischen Verbrechen eines Unrechtsregimes werden.
Manchmal erscheint es mir wie ein De ja`vu: Die Geschichte der Gegenwart einer Gesellschaft, die die Vergangenheit wieder durchlebt und versucht, aus dem Teufelskreis der ständigen Wiederholung auszubrechen.
Diese Wiederholung zermürbt und ermüdet und vor allem – überfordert uns, sodass wir keine wirksamen Ansätze zum Ausbruch daraus finden können – und trotzdem wissen wir alle, dass wir aus diesem Teufelkreis ausbrechen, dass wir beharrlich bleiben müssen.
Und vielleicht sind es genau dieser Wille zu Beharrlichkeit, aber auch die Überforderung bei der Suche nach überzeugenden und wirksamen Ansätzen, die unsere jetzige Lage bestimmen und viele, nicht enden wollende Diskussionen verursachen.
Bei meinem Aufenthalt letzten November in Teheran war ich bei vielen solcher Diskussionen der Aktivisten aus unterschiedlichen Kreisen dabei. Hier möchte ich drei Beispiele nennen, die in Frauenkreisen stattfanden.
Kurz nach meiner Einreise hatte Mansoureh Shojaie, eine bekannte Frauenaktivistin, ein Treffen einberufen, um die Planungen zur Gründung eines Frauenmuseums in Iran voranzutreiben. Eine Idee, den wir seit fast zwei Jahren verfolgen und die hauptsächlich von der Beharrlichkeit von Mansoureh lebt.
Das Frauenmuseum soll eine virtuelle Datenbank anlegen und in regelmäßigen Zeitabständen durch thematische Ausstellungen aktiv werden. Diese Idee laviert, wie viele solche Vorhaben, die die Paranoia und die Schikanen der Kontrollorgane des Regimes herausfordern, am Rande der Machbarkeit. Es geht um das altbekannte Prinzip, kleine Zellen zu bilden, um sie durch Kontinuität und Innovation zu erweitern. Mansourehs engste Freundin und Mitstreiterin war skeptisch und ungeduldig. Ihre gesamte Aufmerksamkeit war auf die Ereignisse auf den Strassen, dem Hauptort des Protests, gerichtet, wo Unerwartetes und Wertvolles passierte. Die Erregung hatte sie wie ein Zauber in ihrem Bann gezogen. Alle anderen Aktivitäten verloren dem gegenüber an Dringlichkeit. Sie würde selbstverständlich am Projekt des Frauenmuseums mitmachen, würde aber am liebsten demonstrieren und davon erzählen. Sie sagte, dass sie bei der Findung einer Balance zwischen ihrem alltäglichen und beharrlichen Kampf als Frauenrechtlerin und der Geschwindigkeit und mitreißenden Kraft der Volksbewegung überfordert sei.
Um ihren Hunger nach Aktivismus zu stillen, hatte sie sich eine neue Aufgabe gestellt. Sie hatte sich einen kleinen Camcorder gekauft, um „Bürgervideos“ zu drehen. Ein Videofilm zu jedem Anlass, Dokumentarfilme als politische Bestandsaufnahme. Drei Wochen später drehte sie eines ihrer ersten „Bürgervideos“ bei meiner Ausstellungseröffnung. Wir sprachen in diesem Video über die politische Kunst, über die Ablehnung der Gewalt und über die Notwendigkeit der politischen Aufklärung.
Obwohl keine spezifischen Frauenthemen zur Sprache kamen, verdeutlichte diese Aufnahme, wie viele andere Dokumente auch, die unübersehbare Selbstständigkeit, Präsenz und Energie der Frauen in der oppositionellen Bewegung in Iran.
Nach der Eröffnung saß ich mit einigen Künstlerfreunden zusammen, hauptsächlich Frauen, die bei ihren Arbeiten politische und frauenrechtliche Ansätze verfolgen. Jeder erzählte aufgeregt über die eigenen Erlebnisse bei den Protestaktionen, über die Hoffnungen, aber auch die Bedenken, die sie hatten.
Es waren Bedenken darüber, ob „unsere“ Potentiale, die für den Widerstand mobilisiert worden sind, nicht wieder von den führenden Figuren der Bewegung für die Durchsetzung eigener Ziele missbraucht würden, ob man nicht noch einmal alles geben und am Ende doch getäuscht werden würde.
Sie erzählten von ihren anfänglichen Vorbehalten, sich als „Säkulare“ auf die religiösen Parolen einzulassen, dass sie aber diesen Vorbehalt aufgeben müssten, um in der Bewegung aktiv bleiben zu können. Ich spürte in ihrer Argumentation erneut die Überforderung, zwischen der eigenen Haltung und jener der „Grünen Bewegung“ eine Balance zu finden – und eigene Parolen als Strategie zu formulieren, um den Alleinanspruch des Regimes auf Auslegung der Religion zu unterminieren.
Einige Tage danach ging ich zum Treffen einer Frauengruppe, die sich „Mütter für den Frieden“ nennt. Die Versammlung fand in der kleinen Wohnung von Frau Aarabi statt, die ihren Sohn Sohrab bei den blutigen Angriffen der Sicherheitskräfte auf Demonstranten verloren hatte. Ich wurde sehr herzlich aufgenommen. Für die Angehörigen der Opfer des Regimes bin ich im Laufe der Zeit zu einer Art Vertreterin geworden, die ihre Schmerzen und ihren Protest artikuliert. Ich bin in diese Rolle hineingewachsen und versuche einen integrativen Ansatz zu finden, damit alle Opfer der politischen Gewalt, von den Hingerichteten in den 80-er Jahren bis hin zu den Opfern der politischen Morde danach und auch die Opfer der jüngsten Protestdemonstrationen mit einbezogen werden.
Ich schaue auf den unbändigen Schmerz dieser Mütter, die versuchen, mit ihrem Verlust umzugehen. Ich rede von unserem Recht, auf Wahrheit und Gerechtigkeit zu beharren, ohne in die Falle von Rache und Gewalt hinein zu geraten. Obwohl mein Standpunkt für sie nachvollziehbar ist, bemerke ich doch, welch ein starkes Bedürfnis nach Vergeltung sie treibt. Ich kenne diese Gefühle sehr gut und weiß, wie sie zu ständigen, sabotierenden Begleitern meines Verstandes geworden sind.
Bei diesem Treffen ging es auch darum, darüber nachzudenken, inwieweit die friedliche Haltung der Grünen Bewegung gegenüber der nackten Gewalt der Schlägerkommandos des Regimes standhalten kann. Viele der versammelten Frauen haben ihre Angehörigen bei den Hinrichtungswellen der 80er Jahre verloren und wissen, dass auch eine große Protestwelle abreißen kann, wenn die Gewalt zu groß wird.
Aber jede von ihnen versucht, am friedlichen Ansatz festzuhalten – vielleicht auch, um angesichts der Brutalität die eigene Menschlichkeit zu bewahren. Der Verzicht auf Gewalt und die Bereitschaft zum Dialog sind eine Errungenschaft der aktuellen Protestbewegung in der iranischen Gesellschaft. Eine Errungenschaft, die mühsam erreicht wurde, und die man nicht so einfach aus der Hand geben möchte – auch wenn der Preis dafür an die Grenzen des Erträglichen geht.
Die „Mütter für den Frieden“ haben mir einen grünen Schal mit einem aufgedruckten Gedicht geschenkt: „Auf dieser Erde! In diesem Land! Werde ich nichts und nichts, aber auch nichts außer Liebe pflanzen!“
Ihre edle Botschaft berührt mich zutiefst. Doch ich frage mich, ob diese der Realität standhalten wird, und ob diese Liebe Nasrin in ihrer kleinen Zelle retten wird.