Vom 1. bis zum 17. September 2022 fand die Tage des Exils erstmalig in Kooperation mit dem Deutschen Exilarchiv 1933–1945 der Deutschen Nationalbibliothek, in Frankfurt am Main statt. Rund 30 Frankfurter Kultur- und Bildungseinrichtungen beteiligten sich daran mit eigenen Ausstellungen, Konzerten, Lesungen und anderen Angeboten. Mehr als 40 Veranstaltungen in der ganzen Stadt haben dazu eingeladen, sich auf vielfältige Weise mit dem Thema Exil auseinanderzusetzen. Ich war die Schirmherrin der Veranstaltung “Tage des Exils”. Hier ist meine Eröffnungsrede:
Es ist mir eine große Ehre und Freude zugleich, Euch als Schirmherrin der Tage des Exiles – zum ersten Mal veranstaltet hier in der Stadt Frankfurt – herzlich willkommen zu heißen.
Gerne möchte ich mit einer Geschichte beginnen, die für mich im Zusammenhang mit diesem besonderen Ort steht, an dem wir heute zusammengekommen sind: Im Exilarchiv.
Vor einigen Jahren erhielt ich einen Anruf von einem unbekannten älteren Mann. Er sprach das altmodische Farsi der Generation meiner Eltern. Er wolle mich gerne treffen, um mir ein „Amanat“ zu übergeben, sagte er am Telefon.
Das Wort Amanat bezeichnet in meiner Muttersprache Farsi oft einen Gegenstand, der im Auftrag einer Person von einer zweiten aufbewahrt wird. Ziel ist es, ihn zum gegebenen Zeitpunkt an Dritte weiterzureichen, die zu dem Gegenstand einen legitimen Bezug haben; die diesen dankend in Empfang nehmen und ihn in ihrem Leben integrieren.
Amanat hat etwas mit Bewahren und Behüten zu tun; gewissermaßen das treuhänderische Weitergeben in die richtigen Hände. Erst dann kann der Gegenstand seinen Sinn erfüllen, der ihm bestimmt ist und somit Teil der Gegenwart werden.
Amanat wird weitergereicht, um das Band der Geschichte nicht abreißen zu lassen, sondern es weiterzuknüpfen.
Ein paar Tage nach dem Anruf besuchte ich den älteren Herrn in seinem Geschäft. Ein kleiner verstaubter Teppichladen auf der Bergerstraße in Frankfurt, der aus einem schmalen, schummerigen Raum bestand, vollbemustert mit orientalischen Teppichen. Er saß am Ende des Raumes an seinem Schreibtisch. Im Radio neben ihm lief ein Farsi-sprachiges Programm, eine politische Sendung adressiert an Exiliraner.
Er schenkte mir Tee ein, bot mir Baghlava an und erzählte von seiner Zeit als Jugendlicher in Teheran. Damals hatte er in der Nähe des Parlamentsgebäudes gewohnt. Ein majestätischer Backsteinbau, der sich über dem gesamten Flügel eines großen Platzes im Zentrum der Hauptstadt Teheran erstreckte: ein Meydan namens Baharestan. Anfang der 50er Jahre, in Zeiten der blühenden Demokratiebewegung im Iran, die durch den legendären Premierminister Mohammed Mossadegh angeführt wurde, pochte das politische Herz des Landes auf diesem Platz. Hier und zur gleichen Zeit begann auch der politische Werdegang meines Vaters, der mit Anfang 20 zur Unterstützung dieser Demokratiebewegung demonstriert und hitzige Reden gehalten hatte. Am Tag des Putsches gegen Mosaddeghs Regierung, ein kolonialistisches Komplott, an dem die CIA maßgeblich beteiligt gewesen war, wurde mein Vater, der zum Widerstand aufgerufen hatte, auf diesen Platz zusammengeschlagen und schwer verletzt.
Viele von uns, die Jungen des Baharestan-Viertels, seien damals, Anfang der 50er Jahre, Anhänger von Mosaddegh gewesen, bemerkte der alte Herr. „Wir haben zu deinem Vater aufgeschaut, der nur ein paar Jahre älter war als wir.“
Dann holte er aus der Schublade seines Schreibtisches einen Din A4 Umschlag heraus. Er zog eine Fotographie aus dem Umschlag und entschuldigte sich für einen kleinen Knick an dessen Ecke unten-links, der das Foto trotz seiner sorgsamen Umsicht beschädigt hatte.
Die schwarzweise Aufnahme zeigt eine große Versammlung junger Menschen, die eng nebeneinanderstehen und deren Präsenz sich bis zur Unkenntlichkeit zum Horizont zieht. Er zeigte auf ein junges Gesicht in dem hinteren Reihen, halbbedeckt und verschwommen und sagte: „Das bin ich“.
In der Mitte des Bildes ragen paar junge Männer aus der Menge heraus – als würden sie gemeinsam auf einer Anhöhe stehen und sitzen. Einer unter ihnen ist mein Vater. Er sieht lässig aus, lacht und strahlt. Neben ihm ist ein großer Lautsprecher zu sehen. Der alte Herr erzählte mir, dass zum Anlass derartiger Versammlungen auf dem Baharestan-Platz die Lautsprecher jedes Mal eigens von meinem Vater von einem nahegelegenen Elektroladen ausgeliehen wurden. Mein Vater musste jedes Mal als Pfand seine wertvolle Armbanduhr hinterlegen.
Tief in das Bild versunken, erzählte er, liebevoll ausgeschmückt mit zahllosen Details, Geschichten aus dieser Zeit und von meinem Vater. Er habe dessen jahrelangen Kampf für einen freiheitlichen Iran mit Bewunderung verfolgt, auch dessen wiederholte Gefangennahme in den 60er und 70er Jahren, sein unerbittliches Engagement für die Revolution und später seinen Einsatz gegen den Machtmissbrauch der neuen Herrscherbande. Er schimpfte und fluchte ausgiebig über die Islamische Republik, ein zur Folklore mutierten Ritual bei jeglichem Treffen von Exiliranern. Er habe stets die Interviews meines Vaters über Exil Sendungen in den 90er Jahren angehört, ihm für seinen Mut und seine Aufrichtigkeit bewundert, stets sei er um sein Leben besorgt gewesen. Er fing leise an zu weinen, als er erzählte, wie er aus demselben Radio, der neben ihm auf seinem Schreibtisch stand, von der Ermordung meines Vaters gehört habe. 1998, am 22. November, sind meine Eltern Dariush und Parvaneh Forouhar, die prominente Regimegegner im Iran waren und sich aktiv für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und eine säkulare Republik eingesetzt hatten, grausam ermordet worden. Ihre Ermordung war Teil einer Serie an politisch verübten Morden, die seitens des Geheimdiensts der Islamischen Republik durchgeführt wurden.
Der ältere Herr übergab mir das wertvolle Foto und merkte an, dass er im Besitz weiterer solcher Aufnahmen sei. Der Fotograf, der damals diese Bilder aufgenommen habe, hatte ein Studio auf den Baharestan Platz besessen. Auch er sei ein Anhänger von Mossadegh gewesen, sagte er. Nach dem Putsch hatte der Fotograf sein Geschäft aufgeben und seine Bilder verstecken müssen. Später hatte er sie als Amanat ihm – dem älteren Herrn – übergeben, wohlwissend dass er sie wertschätzen und hüten würde. Jahrelang sind die Bilder in einer schönen Kiste aufbewahrt worden. Manchmal und nur in kleinen Runden unter Vertrauten wurden sie herausgeholt und angeschaut, erinnernd an eine hoffnungsvolle Zeit, die gewaltsam beendet und aus der offiziellen Geschichtsschreibung des Landes zensiert wurde.
Weiter erzählte er, wie er beim Verlassen Irans in der 60er Jahre, dieses einzige Foto mitgenommen habe, versteckt in einen geheimen Schlitz seines Koffers, den er extra dafür angefertigt hatte. Die restlichen Fotos hatte er seiner Schwester zum Aufbewahren als Amanat anvertraut.
Es wurde ausgemacht, dass sie die Fotografien später nach Deutschland mitbringt, wenn sie ihn besuchte. Aus Angst bei der Ausreise behelligt zu werden, unterließ sie dies jedoch. Zeugnisse einer demokratischen Bewegung sind in repressiven Regimes heikle Objekte, selbst wenn sie einer vergangenen Zeit angehören scheinen.
Beim Abschied versprach er mir, seine Schwester, die noch in Teheran lebte, nach dem Verbleib der Fotos zu befragen und sich um deren Übergabe an meine Verwandten vor Ort zu bemühen.
Ich habe ihm vor seinem Tot weitere Male besucht. Jedoch konnte ich von dem Schicksal der restlichen Fotografien nichts mehr in Erfahrung bringen.
Manchmal denke ich an diese Aufnahmen, die ich nie gesehen habe. Frage mich, ob sie noch existieren? Ob sie wertgeschätzt und weiter als Amanat aufbewahrt werden?
Diese Fotos sind nur ein kleines Beispiel für die verschollenen Zeugnisse einer zensierten Geschichte, Beweise für ein generationenübergreifendes Engagement für Demokratie, die auf der Strecke geblieben ist.
Die Liste der Verluste ist lang und das Wissen um sie oft verloren. Es gab unzählige Attacken, Beschlagnamen, Verwüstungen: Aktivisten wurden im Laufe der Jahrzehnte verfolgt, mundtot gemacht, vertrieben, hingerichtet.
Als Nachkommende, Hinterbliebene und Vertriebene einer langen Unterdrückungsgeschichte versuchen wir Zeugnisse zu sammeln und aufzubewahren, um sie der Auslöschung zu entziehen. Wir legen private Exilarchive an.
Mein Exilarchiv ist in Pappkartons verteilt, die ich extra dafür habe anfertigen lassen, maßgerecht, damit sie in meine Regale passen. Sie beinhalten originale Flugblätter und Nachrichen-Bulletins aus Jahrzehnten, alte Fotos, aus dem Alltag verschwundene Audio-Kassetten, handschriftliche Notizen und Korrespondenz, ja sogar kleine kunsthandwerkliche Souvenirs, die von Insassen während ihres Gefängnisaufenthalts gefertigt wurden. Ich habe ihnen mit großer Mühe nachgespürt und sie gesammelt, bangend aus dem Land geschafft, in Sicherheit gebracht, in mein Zuhause geschafft.
Sie sind Amanats die ich treu bewahre, hüte und hege, jedoch nicht weiß, in welche legitimen Hände ich sie weitergeben könnte, damit sie bewahrt bleiben, aus der Gegenwart die Zukunft erreichen und ihren Zweck erfüllen. Sie sind Bestandteile einer Geschichte, die heute nicht als eine solche anerkannt ist. Sie sind Zeugnisse einer bedrohten Erinnerungskultur.
Solch private Exilarchive, verteilt in Regalen und Kellerräumen von Exilanten, sind paradoxe Wesen. Exilarchive haben eine gesellschaftliche Mission. Sie sind Helden der Aufklärung und Gerechtigkeit. So wie das wertvolle Exilarchiv, das wir hier bewundern können. Sie benötigen eine Infrastruktur, zuständige Institutionen, sie sollen den Experten und Interessierten zugänglich sein, damit sie kontextualisiert werden und zu neuen Erkenntnissen führen.
Unsere kleinen privaten Exilarchive sind noch von diesem Ziel weit entfernt. Vielmehr spiegeln sie die Notlage und das Dilemma wider, in der wir weiterhin stecken.
Exil ist kein historischer Begriff. Die Krise ist allgegenwärtig, nicht nur im Schicksal dieser Archive ohne Heimat, sondern auch in Millionen von menschlichen Schicksalen.
Noch nie gab es in der Geschichte so viele Flüchtlinge. Das ist ein katastrophaler Zustand. Noch schrecklicher empfinde ich die unmenschliche Behandlung der Schutzsuchenden: Dass die Reaktion Europas gegenüber den Fliehenden aus dem globalen Süden sich immer stärker auf den Ausbau von so genannten „robusten Grenzanlagen“ und „Hotspot-Lagern“ beschränkt; dass zunehmend gegen sie Gewalt angewendet wird; dass die Geflüchteten systematischer Einsperrung und Kriminalisierung ausgesetzt sind; dass im Laufe der letzten Jahre militarisierte Abwehrmethoden maßgeblich das Nachdenken über legale Migrations- und Fluchtrouten ersetzt haben.
Die Industriestaaten Europas schieben die Verantwortung für Flüchtlinge und Migrant_innen immer öfter an andere Staaten ab. Im Namen der „Migrationskontrolle“ schließen sie mit Unrechtsregimen einen fragwürdigen Pakt.
Die aus europäischer Abwehr resultierende Verlagerung von Flüchtlingen in Regionen mit schwachen Ökonomien und ohne jegliche demokratische Kontrolle über die Sicherheitsorgane erhöht die Gefahr der Misshandlung von Schutzsuchenden an den Grenzen und in den jeweiligen Transitländern.
Immer deutlicher wird, dass Europas Grenzen Menschen ausmustert, in solche, die zu leben verdienen, und andere, deren Tod hingenommen wird. Das ist eine rassistische Ordnung, die im heutigen Europa nicht einmal mehr als Skandal angesehen wird.
Eine polnische Aktivistin fand über die Brutalität des Grenzregimes treffende Worte. Zitat: „Wir können die Menschen nicht mitnehmen oder sie an einen sicheren Ort bringen. Das wäre eine kriminelle Handlung. Aber es ist kein Verbrechen, diese Menschen ihrem langsamen Tod zu überlassen.“ (“Migration – Die Grenzen der Solidarität – medico international”)
Mit dieser Aussage beschreibt sie auch eine aufgezwungene, eine nötigende Handlungsunfähigkeit, die sich immer breiter macht: schwer zu durchbrechen, schwer auszuhalten. Und als Exilant sehen wir oft machtlos zu, wie Menschen auf der Flucht, in der Situation wie viele von uns einst mal waren, schon an den Grenzen zu Europa abgewehrt werden, ihrer Menschenwürde beraubt, auf der Strecke bleiben, in Elend und Tod versinken.
Exil ist kein historischer Begriff. Es ist eine Krise der Gegenwart. Dementsprechend sollte eine angemessene Auseinandersetzung mit dem Thema Exil, auch dessen Aktualität in den Fokus rücken. Es braucht soziale Bewegungen, eine kritische Öffentlichkeit und Wissenschaft, die hinschauen und für die Wahrung der körperlichen Unversehrtheit, den Schutz vor Gewaltwillkür und die Achtung der Menschenrechte eintreten und sie verteidigen.
Anlässe wie die Programmreihe „Tage des Exils“, Institutionen wie das Exilarchiv können die erforderlichen Grundlagen schaffen, diesem ehrgeizigen Ziel einen Schritt näher zu kommen. Der Öffentlichkeit vor Augen zu führen, welchem Leid Menschen andernorts ausgesetzt sind, wofür sie sich engagieren, kämpfen und ihr Leben lassen, haucht erst den Zeugnissen unserer Exilarchive das Leben ein, das ihnen für unsere gegenwärtige und künftige Geschichtsschreibung gebührt!