Der politische Mord an Parvaneh und Dariush Forouhar jährte sich am 21. November 2024 zum 26. Mal. Zu diesem Anlass ist die Tochter des Politikerehepaares, die in Deutschland lebende Künstlerin Parastou Forouhar, nach Teheran gereist.
Am Mittag des 31. Oktober kam ich am Flughafen Teheran an. Die Ankunftsprozedur verlief wie stets: die Passkontrolle des Flughafens passieren, der die “Imam-Khomeini-Luftgrenze” markiert; die Schritte beschleunigen, in der Hoffnung, die Rolltreppe zu erreichen und den Verwandten zuzuwinken, die schon in der Ankunftshalle warten; im gleichen Moment eine Männerstimme meinen Namen rufen hören, mir meinen Pass abnehmen lassen und den Befehl vernehmen: “Holen Sie Ihr Gepäck ab und bringen Sie es zu diesem Büro!” Der Mann wies dabei auf das Büro mit Überblick über die Passkontrollschalter.
Wochenlang hatte ich nach einer Möglichkeit gesucht, in den Iran zu reisen. Dreimal hatte ich Tickets gebucht, die aufgrund von Flugsperren und Sanktionen gegen iranische Fluggesellschaften verfielen. Bis ich endlich einen Flug mit großem Umweg über Dubai finden konnte. Der Flug nach Teheran, der früher mit Iran Air weniger als fünf Stunden dauerte, verlängert sich diesmal auf mehr als sechzehn Stunden, bis ich mein geliebtes Land betrete, das ferner, isolierter und düsterer wirkte als je zuvor.
Erschöpft und gereizt stehe ich deshalb dem Beamten gegenüber, der meinen Reisepass konfisziert. Jung, groß und bärtig, strahlt er Arroganz aus und erscheint mir wie die Verkörperung des Regimes: rücksichtslos und herrschsüchtig. Er steht für all jene, deren leeres Geschwätz von Macht und Glaube das Land in eine aussichtslose Lage und den Flughafen in den verlassenen Zustand gebracht hatten, in dem ich mich nun wiederfand. Als ich mich über die Schikane beschwere, der ich stets bei der Ankunft im Iran ausgesetzt bin, steht der bärtige Mann hinter seinem Schreibtisch und hört mir gleichgültig zu. Seine Erwiderung klingt bestimmt: Er erfülle nur seine Pflicht.
Außer mir sind zwei weitere Passagiere in das Büro bestellt worden. Ein verängstigter älterer Mann füllt mit zitternden Händen ein Formular aus. Immer wieder fragt er dabei: “Was ist denn dieses Mal passiert? Ich habe doch nichts getan!” Der Beamte antwortet gelassen: “Vielleicht sind Ihre Informationen im System unvollständig.” Im Nebenraum sitzt ein Junge über dem gleichen Formular, gelegentlich fragt er etwas. Seine langen Haare hat er zu einem lockeren Zopf gebunden; er trägt einen schicken Trainingsanzug und scheint mir so gelassen, dass ich denke, er gehöre vielleicht zu ‘ihnen’ – jenen, die außerhalb des Iran ein sorgloses Leben führen und innerhalb des Landes von den Vorteilen ihrer Verwandtschaft zu den Machthabern profitieren. Vielleicht irre ich mich auch. Vielleicht ist er nur ein Abbild der jungen Generation, deren Mut und Selbstbewusstsein uns bei dem “Frau, Leben, Freiheit”-Aufstand vor zwei Jahren alle überrascht und fasziniert hatten.
Nachdem die beiden gegangen sind, ruft der Beamte einen weiteren Kollegen ins Büro. Beide beugen sich über meinen großen Koffer, der geöffnet auf einem Tisch in der Mitte des Raumes liegt. Die Durchsuchung ist wie in den Jahren zuvor akribisch und langwierig. Ich bin gereizter als sonst. Während sie in meiner Kleidung und in den Mitbringseln für meine Angehörigen wühlen, erzähle ich ihnen vom Anlass meiner Reise: dem bevorstehenden Jahrestag der Ermordung meiner Eltern – begangen von Regierungsbeamten, die in ihren Geständnissen angegeben hatten, „ihre Pflicht erfüllt“ zu haben.
Beschlagnahme der Geräte und des Passes
Hinter den Beamten hängt an der Wand ein Schild, auf dem in Schönschrift geschrieben steht: “Wir sind nicht verpflichtet, Dienstleistungen für Frauen zu erbringen, die sich nicht an die islamische Kleiderordnung (Kopftuchzwang) halten.” „Ändert dieses Schild!“, sage ich. „Welche Dienste erbringt ihr denn überhaupt, dass ihr meint, sie verweigern zu dürfen?“ Gleich, was ich sage, sie weichen meinen Kommentaren mit herablassenden Gesten aus. Schließlich beschlagnahmen sie meinen Pass sowie meine elektronischen Geräte: meine Telefone und eine originalverpackte Kamera. Diese Telefone, die ich aus Sicherheitsgründen nur bei meinen Iranreisen verwende, beinhalten keinen Zugang zu meinen Accounts oder zu meinen Kontakten, sondern nur wenige Nummern meiner engsten Angehörigen. Das ist den Beamten bekannt, doch trotzdem führen sie diesen absurden „Befehl“ jedes Mal aus. Sie finden einige Notizbücher in meinem Koffer und legen sie ebenfalls auf den Tisch. Diese hatte ich absichtlich mitgenommen, damit sie sie fänden. Einige Nächte vor meiner Abreise hatte ich deren Seiten mit unlesbaren Kritzeleien in Farsi-Schrift gefüllt. Die Unlesbarkeit der Schrift meiner Muttersprache ist ein Feld, mit dem ich mich in meinem künstlerischen Werk “Schriftraum” seit Jahren beschäftige. Die Idee, mein künstlerisches Denken unmittelbar in eine Durchsuchungssitzung einzubringen, fand ich spannend und erfrischend. Eine Weile blättern die Beamten in den Notizbüchern und starren auf die Seiten, bis einer fragt: “Was ist das?” Ich antworte: “Genau das, was Sie lesen.” Er beginnt zu lesen: “La la ga ses pa da la …”. “Ja, genau das, was Sie lesen.” Er grinst und fragt: “Wollen Sie uns auf den Arm nehmen?” Ich enthalte ihm meine Antwort vor.
Die Beamten kopieren die Notizbücher und legen sie zurück in meinen Koffer. Dann geben sie mir eine Quittung, die gleichzeitig eine Vorladung beinhaltet. Ich soll nach Ablauf einer Woche bei einer anderen Dienststelle vorsprechen. Auch dieses Büro kenne ich gut – es ist der Ort, an dem mich jedes Jahr Beamte des Geheimdienstministeriums verhören. Meine Versuche, den Termin vorzuziehen, damit ich nicht tagelang ohne Telefon bliebe, helfen nichts. Im Gegenteil: Einige Tage später werde ich vom Geheimdienstministerium kontaktiert. Mein Termin hat sich um eine weitere Woche verschoben.
Unvergleichliche Segen
Tanten zu haben, ist ein Segen. Sie öffnen mir die Arme, wenn ich ankomme, die Tür zu meinem Elternhaus, das lange leer stand und das sie hergerichtet haben, damit ich mich wohlfühle. Der Duft von Tee und Sauberkeit liegt in der Luft. In ihren Blicken, die an die Augen meiner geliebten Mutter erinnern, schimmert eine vertraute Mischung aus Liebe und Sorge.
Auch Freunde und Weggefährten im Kampf um Gerechtigkeit an seiner Seite zu wissen, ist ein großer Segen. Selbst wenn ich kein Telefon habe, suchen sie so lange, bis sie mich finden. Dann kommen sie, beleben das Haus mit ihrer Präsenz und erfüllen meine Reise mit Freude und Bedeutung. Durch ihre Erzählungen spüre ich den Puls des Lebens in der Stadt und empfinde die Last der Situation, die sie täglich tragen.
Das Gefühl meiner Zugehörigkeit zu dieser Stadt und zu meinem Viertel ist ein weiterer, unvergleichlicher Segen: durch die Straßen zu schlendern, den Alltag zu spüren, mit Nachbarn und Ladenbesitzern zu plaudern, Nachrichten und Gerüchte über sowie Flüche gegen die Verursacher der Misere des Landes auszutauschen, zu lachen über den Humor, der noch immer inmitten von Erschöpfung und Bitterkeit die Gespräche würzt, oder einen Passanten zu treffen, der Erinnerungen an die Vergangenheit zum Leben erweckt – an meinen Vater oder meine Mutter, an eigene Erlebnisse anlässlich vergangener Jahrestage, an das “Ey Iran”-Lied, das wir zu diesem Anlass immer gemeinsam singen, oder an die Verhaftungen und Schläge, die sie erlitten haben. Hier und da begegne ich Fremden, die mich erkennen und ansprechen, um ihre Solidarität zu bekunden, die die Namen meiner Eltern aussprechen, um sie in Erinnerung zu rufen. Schon seit Jahren fragt mich hier niemand mehr nach dem Grund meiner Reise, hinterfragt weder deren Sinn noch Zweck. Die Versammlung zum Jahrestag der Ermordung der Forouhars scheint zu einem Brauch geworden zu sein, der gemeinsam begangen und bewahrt wird.
Sorgen der Bevölkerung
Bereits bei den ersten Berührungen mit dem Alltag erkennt man den drastischen wirtschaftlichen Druck, der auf den Menschen lastet. Die exorbitant gestiegenen Preise treffen einen wie Schläge ins Gesicht. Man fragt sich ständig, wie finanzschwache Menschen es schaffen, ihren Alltag zu bewältigen, wie sie sich überhaupt ihr täglich Brot leisten können. Die Geschäfte sind zwar gefüllt und scheinen das Bild eines stabilen Alltags abzugeben, doch die Armut hat sich wie ein Tsunami in das Gefüge des Lebens eingeschlichen. Sie ist allgegenwärtig, springt stets ins Auge und hinterlässt ein bleibendes Schamgefühl.
Aus der Ferne glaubte ich, die Angst vor einem möglichen Krieg und seinen verheerenden Folgen müssten das Hauptthema dieser Tage sein. Doch schon bei den ersten Gesprächen in meinem Stadtviertel wird mir klar, dass selbst angesichts des Krieges das, was die Menschen am meisten belastet und ängstigt, die eskalierende wirtschaftliche Krise ist, die durch den Krieg noch verschärft werden würde. Sie haben mehr Angst vor den Folgen des steigenden Dollarkurses auf ihr Leben als vor Bomben und Raketen. Ein Ladenbesitzer erklärt mir: „Die haben nicht den Mut, mit Mächtigeren zu kämpfen. Ihr Krieg ist gegen uns gerichtet, die wir zu ihren Geiseln geworden sind. Sie prahlen nur und werfen höchstens ein paar ‚Boiler‘ hier und da ab.“ Verblüfft frage ich mich, was er wohl mit ‘Boiler’ meint. Sein Lehrling sagt: „Kennst du das nicht? So nennen wir die Raketen der Regierung – Boiler.“
Als die Nachricht über die Beschlagnahmung meines Passes bekannt wird, werde ich immer wieder auch darauf angesprochen. Bekannte und Fremde, sogar in Geschäften, Taxis und in der Metro, fragen mich nach meinem Pass; dem folgen Flüche gegen das Regime, die nun viel schärfer formuliert und offener ausgesprochen werden als in den Jahren zuvor. Einmal gehe ich einen Gehweg entlang, als eine laute Stimme in der Luft erklingt: „Haben sie den Pass zurückgegeben?“ Es ist ein Motorradfahrer, der die Straße entlang fährt. Ich rufe ihm hinterher: „Noch nicht, aber danke!“
Solche Momente der Solidarität sind erfrischend und heilsam, wie ein kühler Morgenwind, der einem ins Gesicht weht und die Seele belebt. Auch der Anblick von Frauen ohne Kopftuch in der Stadt beschert mir dieses Gefühl. Ihre alltägliche Rebellion leuchtet wie Sterne im Trubel der Stadt. Ihre Anwesenheit wird von allen – Frauen und Männern, Gläubigen und Nicht-Gläubigen – so selbstverständlich akzeptiert, dass nicht nur sie bewundernswert erscheinen, sondern auch die Umgebung durch die bloße Akzeptanz ihres Tuns gleich respektvoller wirkt. Doch dieses würdige Bild des öffentlichen Raums wird abrupt an den Toren von Schulen, Universitäten, Ämtern und ähnlichen Gebäuden zerstört. Solche Orte sind wie Engpässe, wo die Handlanger des Regimes das Sagen haben, wo sie ihre „Autorität“ zur Schau tragen, Anweisungen geben, Abweichler beleidigen und demütigen, ja, sogar vor Ort bestrafen. In der ersten Woche meines Aufenthalts in Teheran wurde Ahoo Daryayi, eine 26-jährige Studentin, an einem solchen Engpass am Eingang des Universitätsgebäudes aufgehalten und so sehr drangsaliert, dass sie sich in einer explosiven Reaktion ihre Kleidung vom Leib riss. Fast nackt und wehrlos lief sie auf und ab, bis sie von Agenten abgeführt wurde. Es folgte eine große Welle der Solidarität mit ihr und ihrer symbolträchtigen Aktion.
Eine neue Kultur
Selbst in der Metro, wo die Staatskontrolle schärfer ausgeübt wird, begegnet man Frauen ohne Kopftuch. Der Unterschied ist die Stimme, die aus den Lautsprechern der Stationen ertönt und ermahnt, dass die Einhaltung des islamischen Hijabs obligatorisch sei und der Verstoß dagegen eine Straftat darstelle, die verfolgt werde. Die Stimme ist laut vernehmlich und wiederholt sich beständig, ohne dass jemand – ob mit oder ohne Kopftuch, Frau oder Mann – darauf achtet. Es scheint mir, als ob unter den Bürgerinnen und Bürgern dieses Landes eine Kultur des „Respekts und der Achtung vor der Würde des anderen“ herangewachsen ist, die alle gemeinsam aufrecht hält und festigt.
Für mich, die ich aus der Ferne verfolge, was im Iran geschieht, war es sehr hoffnungsvoll, diese neue Kultur zu erleben – so klar und selbstverständlich in den Alltag integriert, als habe sie sich zu einer sozialen Norm entfaltet. Welches Echo könnte nachhaltiger für den großartigen Slogan „Frau, Leben, Freiheit“ erklingen, der während des Aufstands im Jahr 2022 ganz Iran durchzogen hat? Es scheint, als ob jene Forderungen dieser Bewegung, deren Voranschreiten durch zivilen Ungehorsam der Bürger durchgesetzt werden könnte, Früchte getragen haben und weiterhin lebendig und stark sind. Doch die Forderungen, die von den Initiativen der politischen Opposition abhängen – von Stopp der Hinrichtungen und der Freilassung der politischen Gefangenen bis hin zur Abschaffung des Regimes – sind in diversen Sackgassen gelandet und stecken weiterhin fest.
Ein lieber Freund meinte, die Islamische Republik habe ihre Existenz mit den unterschiedlichen Geweben des sozialen Lebens derart heimtückisch verflochten, dass die Last jeder einzelnen Niederlage des Regimes auf die Schultern der Bevölkerung fällt. Er sagte, das Geheimnis dessen Machterhalts liege darin, genau diese Gleichung aufrechtzuerhalten. Unweigerlich musste ich an das weitreichende Tunnelsystem der Hamas im Gazastreifen denken, das unter Schulen, Krankenhäusern und Wohnhäusern der Bevölkerung gebaut wurde – so fest mit dem Alltag der Stadt verschmolzen, dass jeder Angriff auf diese Tunnel zur Zerstörung von Lebensräumen der Menschen und zum rücksichtslosen Töten der Zivilbevölkerung führte. Mein Freund setzte fort: „Sie haben immer versagt, und wir haben immer die Last ihrer Niederlagen getragen. Dann denken sie sich ein neues Projekt aus, das ebenfalls scheitern wird oder bereits gescheitert ist.“
Eine befreundete Aktivistin sagt: „Wir haben keinen anderen Ausweg als den Sturz dieses Regimes. Jede Minute, in der dieser Zustand andauert, verursacht weiteres Elend für die Menschen. Er wird in der vollständigen Zerstörung des Iran münden.“ Sie war so aufgewühlt, dass sie die anderen kaum reden ließ. Mit unbändiger Wut beschrieb sie den bevorstehenden Niedergang. Nicht nur das Regime, sondern auch die politische Opposition stellte sie an den Pranger: „Viele von ihnen sind respektable Menschen, aber sie werden ihrer historischen Verantwortung nicht gerecht. Sie sind mit sich selbst beschäftigt, und ihre einzige Kunst besteht darin, sich gegenseitig Steine in den Weg zu legen, Debatten zu führen, die eher ablenken, anstatt zu fokussieren.“ Sie sprach lange und ich spürte, wie sich unter den Anwesenden langsam ein Schamgefühl ausbreitete. Scham über das Eingeständnis einer Ohnmacht, an der wir alle teilhaben. Ich fragte sie: „Hast du Hoffnung? Woraus schöpfst du Hoffnung?“ Sie schaute mich überrascht an, lächelte und antwortete erst nach einer Weile: „Aus den einfachen Menschen, ihrem Anstand und ihrer Tapferkeit.“
Meine Freunde, die ich während meines Aufenthalts in Iran treffe – allesamt Gegner des Regimes, ob bekannt oder unbekannt –, sind sich der Verantwortung, die ihnen daraus erwächst, bewusst und tragen ihre Last. Doch sie finden keinen wirksamen Weg, dieser Verantwortung gerecht zu werden. Aus diesem Zustand heraus agieren sie unterschiedlich, ja sogar gegensätzlich. Einer hat aus Verzweiflung an der Präsidentschaftswahl teilgenommen, ein anderer hat sich den Monarchisten angeschlossen, einer bemüht sich, eine sozialdemokratische Partei zu gründen, ein anderer versucht, eine Gruppe von Integrationsfiguren aus der Opposition zusammenzubringen, die die Gesellschaft in der Stunde der Not führen könnte. Einer gründete eine unabhängige Medienplattform, um die Stimme der Opposition im Inland zu stärken. Ein anderer steht derart unter dem Druck ständiger Vorladungen und des Berufsverbots, das ihm auferlegt ist, dass er die Zukunft dem Lauf der Ereignisse überlässt. Ein weiterer plant, den Iran zu verlassen, um sich im Exil gegen das Regime zu engagieren. Und so weiter.
Ein Freund, der kürzlich aus dem Gefängnis entlassen wurde, behauptet, dass in den vergangenen Jahren ein großer Teil der Kraft der politischen Opposition für symbolische Aktionen eingesetzt wurde, die keine entscheidenden Ergebnisse erzielt hätten. „Auch wenn sie gut genug sind, um in die Geschichte einzugehen, tragen sie nicht zum Sturz dieses Regimes bei.“
Selbstmord als Protest
Am Abend des Mittwochs, 13.11., kehre ich von einem langen Tag nach Hause zurück. Die Hauptstraße, die zu meinem Elternhaus führt und „Revolution“ heißt, ist überfüllt. Der Fahrer schlägt vor, über die „Republikstraße“ zu fahren, die ruhiger sei. Dass an einer Kreuzung mehrere Polizeiautos stehen, kommt mir nicht ungewöhnlich vor. In jenen Tagen hatte ich auf dem Mobiltelefon, das ich ausgeliehen hatte, keinen Zugang zum Internet und konnte die Nachrichten nur zu Hause über ausländische Fernsehsender verfolgen. Ich wusste nicht, dass wenige Stunden zuvor die Leiche des Aktivisten Kianush Sanjari genau auf dieser Straße gelegen hatte, die ich nun entlangfuhr. Ich wusste nicht, dass er nur wenige Stunden vor seinem Selbstmord angekündigt hatte, sich umzubringen, falls seine Forderung nach sofortiger Freilassung der vier politischen Gefangenen Fatemeh Sepehri, Nasrin Shakarami, Toomaj Salehi und Arsham Rezaei nicht erfüllt werde. Zu Hause angekommen, erfahre ich aus den Fernseh-Nachrichten von seinem Tod – eine eingeblendete Nachrichtenzeile läuft unter dem aktuellen Programm. Die Zeile zieht vorüber und hinterlässt bei mir eine unerträgliche Bestürzung.
Am nächsten Tag kaufe ich zur Erinnerung an Kianush Sanjari eine rote Rose im Blumenladen meines Viertels, stecke sie in eine Vase und stelle diese auf die Terrasse meines Elternhauses, an jene Stelle, wo er vor vielen Jahren gestanden und mir von seiner Verhaftung beim Jahrestag meiner Eltern erzählt hatte. Damals war er 18 Jahre alt.
Am Abend kommen einige meiner Freunde zu Besuch. Einer meint: „Wir alle haben versagt.“ Wir seien zwar so viele politische Aktivisten in dieser Stadt, doch nur zwei Personen hätten Sanjari nach dessen Ankündigung aufgesucht, um nach ihm zu schauen. „Respekt für sie“, fügt er hinzu, „aber wir alle haben versagt.“ Er berichtet von den diffamierenden Reaktionen, die die Selbstmordankündigung von Kianush auf Instagram nach sich gezogen habe, von der harschen Rhetorik, die in sozialen Netzwerken herrsche und die Atmosphäre des politischen Aktivismus vergifte. Ein anderer Freund sagt, er habe den Instagram-Post von Kianush, in dem dieser seinen Selbstmord ankündigte, unmittelbar gesehen. „Der Ton war ernst, und ich war besorgt. Ich hatte keine Beziehung zu ihm und fragte nur zwei weitere Personen nach ihm, die ihn persönlich kannten. Ich habe nicht weiter nachgehakt. Wir hätten etwas tun sollen, und wir haben es nicht getan.“ Und wieder breitet sich ein Gefühl von Scham aus, das uns alle verschlingt.
Die jährliche Prozedur des Verhörs
Zu dem Verhör, das jährlich vor dem Todestag meiner Eltern stattfindet, werde ich am 11. November bestellt. Es findet in einem neuen Amt statt, das wörtlich übersetzt „Verfolgungsbüro des Informationsministeriums“ heißt. Die Beamten, die mich verhören, sind dieselben wie im letzten Jahr. Auch der Ablauf der Sitzung gleicht sich: Es werden Fragen gestellt, die mir zu verstehen geben sollen, dass sie über mein Leben und meine Aktivitäten Bescheid wüssten; es werden Behauptungen und Anschuldigungen in den Raum gestellt, die meine Bekannten und Freunde betreffen, um meine Reaktionen darauf zu testen und mich zu verunsichern und in die Irre zu führen. Schließlich folgen ihre Monologe, in denen sie die Realität verdrehen.
Am Ende fragen sie nach meinen Plänen für den Jahrestag, die ich auch schriftlich zu Protokoll bringen und unterschreiben muss. Es folgt die obligatorische Mahnung bezüglich der Sicherheit der Versammlung: „Wenn die Konterrevolution diesen Anlass für eigene Ziele instrumentalisiert und die treuen Bürger [gemeint sind die fanatischen Schläger des Regimes] provoziert, können wir die Sicherheit der Versammelten nicht garantieren. Sie tragen die Verantwortung!“ Anschließend geben sie mir meine elektronischen Geräte zurück.
Auf meine Frage, welchen Sinn die Beschlagnahme dieser Geräte habe, wenn sie doch aus Erfahrung wüssten, dass sie keinerlei Informationen enthalten, antwortet einer von ihnen: „Der Sinn erschließt sich uns.“ Die Rückgabe meines Passes wird auf später verschoben. Er befände sich in der „administrativen Bearbeitung“, meint einer. „Nach zwei Wochen ist er immer noch in Bearbeitung?“, frage ich nach. Gelassen antworten sie, dass sie mich kontaktieren würden, wenn ich ihn im üblichen Büro der Passbehörde abholen könnte.
Die Rückkehr von solchen Sitzungen bringt schöne Momente mit sich: das Schwinden der Unruhe in den Augen meiner Tanten, die zu Hause auf mich warten; die Anrufe von Verwandten und Freunden, deren Sorge mit dem Klang meiner Stimme schwindet.
Das Bangen um meinen Pass zieht sich in die Länge. Jedes Mal, wenn ich telefonisch beim zuständigen Büro nachfrage, bekomme ich dieselbe Antwort: „Der Pass befindet sich in der administrativen Bearbeitung.“ Schließlich werde ich einen Tag vor dem Todestag meiner Eltern vorgeladen, um ihn abzuholen.
Schleichender Verfall
Meine Reise war dieses Mal länger als in den vergangenen Jahren; ich hatte Gelegenheit, mehr Zeit in meinem Elternhaus zu verbringen – hier und da zu sitzen, bis die Erinnerungen zu mir zurückkehrten, das Wandern des Lichts auf den Wänden und Teppichen zu beobachten, die Schränke und Schubladen zu ordnen, den Staub von den Büchern zu wischen, in ihnen zu blättern.
Der Verfall des Hauses hat sich schleichend ausgebreitet und ist nun sichtbar geworden. An dem einen Ende des Wohnzimmers, in der Raumecke, zieht sich entlang der Wand ein Riss, der immer größer wird. Ein schmaler Riss hat sich von der Öffnung des Klimageräts in der Mitte der Wand nach unten gezogen. Der Putz an der Decke, der sich nach einem Rohrbruch aufgeworfen hatte, beginnt langsam abzufallen. Im Treppenhaus und im Flur blättert die Farbe ab. Das Wandregal im zweiten Stock hat sich wegen der Feuchtigkeit aus der Dachrinne verzogen. Die Geländer der Balkone haben Risse bekommen, einige sind gebrochen. Das Haus ist nicht nur ein Erbe. Es verkörpert ein Vermächtnis, das mich an sich bindet – egal ob ich dort bin oder weit weg davon. Es spiegelt meine Liebe zur Heimat wider und meinen Schmerz um sie.
Hier sind meine verstorbenen Eltern, manchmal die Erinnerungen an die Jahre ihres Lebens und ihres Kampfes für die Freiheit. Manchmal sind diese Erinnerungen ihre toten Körper, die hier gefunden wurden. Und manchmal sind sie die Vorstellung, die ich mir von ihrem letzten Gang mache – in jenen Stunden, in denen sie mit ihrem Mörder in diesem Haus allein waren. Die Wahrheit darüber zu erfahren, wie geliebte Menschen zu Tode gekommen sind, ist für Hinterbliebene unverzichtbar. Es ist sowohl ein Recht als auch ein Bedürfnis. Es lässt den Lebenden keine Ruhe, gleich, wie viele Jahre vergehen – das macht keinen Unterschied. Wenn man die Wahrheit nicht kennt, wenn ein tyrannischer und listiger Machtapparat einem die Wahrheit verwehrt, dann sterben in der Vorstellung die Gestorbenen tausendfach und auf tausend unterschiedliche Weisen.
Das Haus ist ein Verbündeter für mich, für uns alle, die dort zusammenkommen, um auf das Recht auf Wahrheit und Gerechtigkeit zu beharren.
Die Gedenkveranstaltung
Am Donnerstag, den 21. November, findet die Gedenkveranstaltung zum 26. Jahrestag des politischen Mordes an Parvaneh und Dariush Forouhar statt. Schon am Morgen kommen Verwandte und Freunde, um das Haus für die Zeremonie vorzubereiten. Auch wenn seit einigen Jahren das Verbot der Veranstaltung gelockert wurde, bleibt die Bedrohung spürbar, weil uns die Bilder von jenen Jahren der Verbote im Kopf verfolgen: Aufmärsche der Polizei und der Handlanger des Regimes, die die Straße blockieren und die Versammelten drangsalieren und verprügeln. Es liegt stets die Sorge in der Luft, dass es wieder geschehen kann.
Am Nachmittag öffnen wir das Haustor, und langsam füllt sich das Haus mit Besuchern. Dieses Jahr war die Anzahl der Menschen, die zur Gedenkveranstaltung kamen, größer als in den vergangenen Jahren, und die Besucher waren unterschiedlicher. Die spürbare Solidarität trotz aller Meinungsdifferenzen, der kulturellen Vielfalt der Anwesenden sowie deren großem Altersunterschied berührt mich und stimmt mich hoffnungsvoll. Auch die Agenten des Regimes sind gekommen. Sie alle tragen Masken. Einige lehnen sich an die Wand gegenüber der Haustür, filmen und fotografieren die Besucher. Andere stehen entlang der Straße oder sitzen in den Autos, die ringsherum parken.
Später am Abend, als sich das Haus langsam zu leeren beginnt, sagt eine Freundin beim Abschied, dass sie während der Stunden unserer Zusammenkunft eine für diese Tage seltene Zuversicht gespürt habe, die sie Kraft schöpfen ließ. Ich muss an meine Eltern denken, an ihre ungebrochene Zuversicht auf ein freies Iran.
Abschiedsbesuch
Am Tag nach der Gedenkfeier besuche ich mit meiner lieben Freundin das Grab meiner Eltern, um all die Blumen, die man für sie gebracht hat, dort abzulegen. Offenbar war schon vor uns jemand dagewesen, der nach alter Tradition Körner auf das Grab gestreut hat, damit Vögel kämen, auf den Grabstein picken und die Toten rufen würden. Mögen sie auch unsere Stimmen hören, die sie nicht in Vergessenheit geraten lassen!
Wenige Tage später reise ich ab. Auf dem langen Flug von Teheran nach Dubai schaue ich aus dem Fenster auf das Land, auf seine steinigen Berge, die Trockenheit ausstrahlen, auf die kleinen Flecken auf seiner gräulichen Haut, die grünlich schimmern, auf seine sandigen Wüsten, die sich sanft ausstrecken, und auf einen bezaubernden Salzsee, der rot schillert. Das Schamgefühl nimmt erneut Besitz von mir. Ich schaue auf die Schönheit dieser Landschaft und kann mich gleichzeitig nicht gegen Verlustgefühle wehren. In mir wächst die Vorstellung des Niedergangs, den meine befreundete Aktivistin vorhergesagt hat.